Humanitäre Geste versagt

Victor Atoe wurde beim Brandanschlag auf die Lübecker Flüchtlingsunterkunft vor zehn Jahren schwer verletzt. Dennoch versagen ihm die Behörden als Einzigem der Überlebenden das Bleiberecht

von Elke Spanner

„Humanitär“ ist ein relatives Wort. Während die Überlebenden des Brandanschlages in der Lübecker Hafenstraße ein Bleiberecht „aus humanitären Gründen“ bekommen haben, findet die Kieler Landesregierung es ebenso menschlich, Victor Atoe trotz des gleichen traumatischen Erlebnisses abzuschieben. Der Nigerianer, der die Brandnacht vor zehn Jahren schwer verletzt überlebte, hat bis heute keine Perspektive in Deutschland. „Ich bekomme keinen Frieden“, sagt Atoe bitter. „Die anderen Überlebenden haben inzwischen eine Wohnung, Arbeit, manche einen deutschen Pass. Ich habe jeden Tag Angst.“

Vom ersten Tag an war bei Victor Atoe alles anders. Zehn Menschen starben, als das Haus in der Hafenstraße in der Nacht des 18. Januar 1996 abfackelte, 38 Flüchtlinge kamen mit dem Leben davon. Auch Victor Atoe rettete sich in letzter Sekunde durch einen Sprung aus dem Fenster. Später sollte ihm zum Verhängnis werden, dass er sich eigentlich nicht in der Hafenstraße hätte aufhalten dürfen: Atoe war in einer anderen Unterkunft gemeldet und heimlich bei einem Freund im 1. Stock, um sich der drohenden Abschiebung zu entziehen. Als „Illegaler“, so die Ausländerbehörde, müsse er nicht wie die übrigen Bewohner behandelt werden. Im Mai 1996 wurde er abgeschoben. Als die Beamten ihn den nigerianischen Grenzern übergaben, sagten sie, er sei illegal in Deutschland gewesen. Dass er den Anschlag miterlebte, sagten sie nicht.

Wieder in Nigeria, erlebte Atoe ein weiteres Martyrium. Sein Bein war beim Sprung aus dem Fenster der Hafenstraße zertrümmert. Die Ärzte im Lübecker Krankenhaus hatten ihn darauf hingewiesen, dass die eingesetzten Metallplättchen nach einem halben Jahr wieder entfernt werden müssten. Als das halbe Jahr um war, war er längst wieder in Nigeria, die Chance auf eine Operation hatte er dort nicht. Das Bein entzündete sich „und pochte manchmal so stark, dass ich die Schmerzen im ganzen Körper spürte“.

Irgendwann hielt er die Schmerzen nicht mehr aus. Atoe lieh sich Geld und kam im Frühjahr 1999 nach Deutschland zurück. Statt ins Krankenhaus kam er zunächst wieder in Abschiebehaft. Seiner damaligen Anwältin gelang es schließlich, einen befristeten Aufenthalt für die Operation und anschließende Genesung durchzusetzen. Im August 1999 wurde er operiert. Höchste Zeit, sagten die Ärzte. Atoe hatte eine tiefsitzende Venenthrombose und befand sich erneut in Lebensgefahr.

Auch dass er dieser nur knapp entkam, stimmte die Verantwortlichen nicht milder: Die Schleswig-Holsteinische Härtefallkommission lehnte seinen Antrag auf Bleiberecht ab. Die humanitäre Geste hat er sich offenbar dadurch verwirkt, dass er 1996 gegenüber der Ausländerbehörde nicht mit offenen Karten spielte. Dass Atoe heute noch in Lübeck ist, liegt daran, dass die Ausländerbehörde keine gültigen Abschiebepapiere für ihn hat. Bis Dezember hatte er eine Aufenthaltserlaubnis, seither nunmehr eine „faktische Duldung“, wie sein Anwalt Björn Stehn sagt: „Im Moment will ihn niemand abschieben, aber einen sicheren Status hat er nicht.“ Jenseits der juristischen Situation kommt auch der Anwalt schnell auf das Wort „humanitär“ zu sprechen: „Aus humanitären Gründen“, sagt Stehn, „muss Atoe endlich Bleiberecht bekommen.“

Dass ihm das verwehrt wird, ist einer der Gründe, warum auch die übrigen Überlebenden der Brandnacht nicht wirklich zur Ruhe kommen. Zum einen, klagt die frühere Hafenstraßen-Bewohnerin Marie Agonglovi, „laufen die Täter, die so viel Leid über unsere Familien gebracht haben, immer noch frei herum“. Und zum anderen fordert sie, endlich auch Atoe den Aufenthalt in Deutschland zu gewähren: „Er kann nicht mehr“.