berliner szenen Das Alphabet der Stadt

M wie Mitte

Schnee rieselt auf die verschlafenen Dächer in Mitte. Im Kiez um den Koppenplatz herrscht Ruhe, niemand wackelt über die schmalen Gehsteige. Im Hackbarth’s läuft Xavier Naidoo. Die Bedienung scheint neu zu sein, Extrawünsche – jemand hat tatsächlich eine Rhabarberschorle bestellt – erfüllt sie wortlos. An den Seitentischen sitzen Menschen um die 30. Franzosen, Italiener. Touristen sind das nicht. Sie arbeiten hier, irgendwo in Mitte.

Eine Frau mit einer orangen Plastiktüte kommt herein. Sie hat frisch gekaufte Leitz-Ordner zur Inventurvorbereitung dabei. Die Frau lächelt die Bedienung an, sie kennen sich, Naidoo wird durch Besseres ersetzt. Die Frau stellt ihre Tüte auf einen Stuhl und setzt sich auf einen Fensterplatz.

Der Agent ist spät. Er bringt den Tonträger für eine baldige Besprechung, er wohnt ganz in der Nähe. Obwohl er seit neuestem Drohbriefe bekommt, wie er erzählt, macht er einen sympathischen Eindruck. Schick. Mit dicker Mütze. Nachdem alles geklärt ist, verabschiedet er sich, nicht ohne noch in meine Verabredung zu laufen. Eine unverhoffte Ménage-à-trois, die beide irritiert, dann erkläre ich alles, kurze Vorstellung, Hände werden geschüttelt, bis er in die Linienstraße verschwindet.

Um Mitternacht wechseln auch wir den Ort. Im Alten Europa sitzt lauter Subkulturprominenz herum. Über dem Rosenthaler Platz drehen drei Rettungshubschrauber in Richtung Palast der Republik ab. Eisigkalt ist es, nur im Kaffee Burger herrscht Hochsommer: Der DJ legt traurigen Bossanova auf. Die gloriose Astrud Gilberto säuselt von einer unglücklichen Strandliebe in Rio. Eine Welle der Melancholie erfasst die Tanzmeute. Es ist spät, draußen ist Winter. Die Hälfte des Alphabets ist schon rum. RENÉ HAMANN