Experimentelle Verdichtung

AUS DEM ARCHIV „Korrekt und Anarchisch“ in der Berliner Akademie der Künste zeigt neue Facetten im Schaffen von Georg Grosz

Mit ordentlich gezogenem Scheitel, Krawatte und Anzug wirkt George Groszer hier kaum wie ein Bürgerschreck

VON ANGELA HOHMANN

Korrekt und anarchisch sind die Attribute, die der Titel einer großen Werkschau in der Akademie der Künste aus eigenen Sammlungs- und Archivbeständen der Persönlichkeit und dem Schaffen des genialen Zeichners und politischen Künstlers Georg Grosz zuschreibt. Die Anarchie hätte man ihm in Erinnerung an die grotesken Typen der Weimarer Republik auf seinen satirischen Zeichnungen zwischen 1915 und 1920 unumwunden attestiert, doch die Ausstellung dokumentiert auch die Akribie des Künstlers: seine Sammelleidenschaft, seine sorgfältige Werkarchivierung und den pointierten detailgenauen Blick, der für die Treffsicherheit seiner Karikaturen sorgt.

Die spitze Feder von Georg Grosz hat auch heute nichts von ihrer Schärfe verloren, betrachtet man die Originalzeichnungen bekannter Blätter in vermeintlich kindlichem Strich neu, wie etwa die „Kleine George-Grosz-Mappe“ von 1917, die ihren Urheber in Berlin nahezu über Nacht berühmt werden ließ.

Wie sehr Grosz den Nerv der Zeit getroffen hat, offenbaren auch die Prozesse, mit denen er wegen Blasphemie und Pornografie zu kämpfen hatte – und schließlich die Tatsache, dass später die Nationalsozialisten seine Kunst als „entartet“ verfemten. Die Ausstellung in der Akademie der Künste beschränkt sich jedoch nicht auf hinlänglich Bekanntes. An die 500 Objekte sind zu betrachten, darunter frühe Jugendzeichnungen, über 200 Skizzenbücher, dadaistische Montagen, Bild- und Textcollagen, Aquarelle und ein Satz von 23 Porträtstudien zu den Grosz’schen Bildnissen von Max Herrmann-Neiße. Letztere hatten den Nationalsozialismus in einem Haus der Familie am Savignyplatz 5 überlebt und wurden durch einen Zufall erst 1984 wiederentdeckt .

Besonders eindrucksvoll sind die Skizzenbücher von 1905 bis 1958, die ein ganzes Künstlerleben dokumentieren: die ersten Zeichnungen, die noch Arbeiten von Wilhelm Busch, Eduard von Grützner und Adolph von Menzel kopieren und spätere, in denen alles akribisch festgehalten wird, um anschließend auf große Blätter übertragen zu werden – die Jahre während des Ersten Weltkriegs, Reisen nach Frankreich oder an den Ostseestrand, die Anfangsjahre in New York. Präzise beobachtend bearbeitet der Realist Grosz sein Material, das „Zeichnen nach der Natur“ ist für ihn gleichbedeutend mit „flüchtigen Notizen über gehende Menschen, Zeitungsleser oder Esser im Café und über alle möglichen Dinge, die mich umgeben“. So erinnert er sich später in seiner Autobiografie. An diesem Material feilt Grosz besessen, bildet seine Typen und macht sie zu Versatzstücken in immer neuen Kontexten: der feiste Kapitalist, der bigotte Bürger, die frivole Dirne, der zynische Militarist und der verlogene Pfaffe.

Arbeit mit Versatzstücken nimmt eine andere künstlerische Technik vorweg, die Grosz und John Heartfield 1916, als der Dadaismus von Zürich nach Berlin schwappt, „an einem frühen Maientage um 6 Uhr“ erfindet: die Fotomontage, das wichtigstes Mittel zur „experimentellen Verdichtung der Wirklichkeit“, wie es in der Ausstellung heißt. Zu sehen sind mehrere Fotomontagen und Collagen, die Grosz zusammen mit Heartfield schuf und die wiederum Versatzstücke seiner zeichnerisch entwickelten Typen enthalten.

Auf diese Technik kommt Grosz, als er schon lange in den USA lebt, 1956 in einer letzten Werkgruppe zurück, die an die 40 Blätter umfassen soll. Die Ausstellung zeigt davon vier. Mit alter Verve seziert Grosz in Collagen, wie „Frauenaffe im Triumph-Modell“ (1956) und „College-Girl“ (1958) die von Perfektion, Schönheitswahn und Konsumsucht geprägte Idealvorstellung der amerikanischen Gesellschaft, und kommt dabei einer speziellen Kunstströmung der jüngeren Zeitgenossen im alten Europa ganz erstaunlich nahe: der englischen Variante der Pop-Art.

Neben dem bildnerischen Werk dokumentiert die chronologisch von der Kunsthistorikerin Birgit Möckel kuratierte Werkschau auch das Leben von George Grosz über Briefwechsel, einen Dokumentarfilm und diverse Fotografien, darunter Porträts von Irving Penn und Arnold Newman. Vor allem die frühen Fotografien aus der Weimarer Zeit zeigen weniger den anarchischen als vielmehr den korrekten George Grosz: Mit ordentlich gezogenem Scheitel, Krawatte und Anzug wirkt er hier kaum wie ein Bürgerschreck.

Insgesamt gelingt der Ausstellung ein sehenswerter und vielschichtiger Überblick über das Werk eines Künstlers, der mit dem Zeichenstift der Welt den Spiegel vorgehalten hat und durch die halb gewollte, halb erzwungene Emigration seit 1933 im damals fernen Amerika kein Publikum mehr fand. Die Rückkehr nach Deutschland zusammen mit seiner Frau 1959 überlebt er nur drei Monate, als er dort kurz vor seinem 65. Geburtstag am 6. Juli in Berlin stirbt.

■ Bis 5. April, „George Grosz. Korrekt und anarchisch“. Akademie der Künste, Berlin. Katalog: George Grosz montiert (Akademie der Künste), 17 €