Wenn der Kannibale einen Hai lobt

RADSPORT Der Giro d’Italia geht zu Ende mit dem Gesamtsieg des neuen Hoffnungsträgers Vincenzo Nibali, aber der Ausschluss des ehemaligen Gewinners Danilo Di Luca erinnert das Peloton an die ignorierte Vergangenheit

Di Luca sei wie er, lobte Eddie Merckx. Auch die Legende hatte sich mit einem Dopingvergehen verabschiedet

VON TOM MUSTROPH

Zwei Männer drückten dem 96. Giro d’Italia ihren Stempel auf. Der eine, Vincenzo Nibali, gewann in beeindruckender Angriffslust das Gesamtklassement und konnte am Sonntag nach der letzten Etappe die Trophäe mit dem gewundenen Band in den Himmel von Brescia recken. Der andere, Danilo Di Luca, startete sogar noch mehr Attacken. Er wurde aber nicht einmal mit einem Etappensieg belohnt und musste dann auch noch vorzeitig die Heimreise antreten. In seinem Urin war Epo entdeckt worden. Während Nibali als neuer Rundfahrtstar in den Himmel gehoben wurde, ereilte den Giro-Sieger von 2007 das Los, vom Peloton als ein Fossil der – angeblich vollkommen überwundenen – Dopingvergangenheit beschimpft und in einen ewigen Ruhestand geschickt zu werden. Ein bizarrer Moment: Wenige Tage vor Bekanntwerden der positiven A-Probe bot Di Luca sich noch als zukünftiger Helfer für Nibali an und erinnerte an dessen Qualitäten als junger Helfer bei seinen eigenen Giro-Sieg vor sechs Jahren.

Jetzt war der Junge von damals der Held. Bei Schnee und Regen hatte Nibali die Konkurrenz distanziert und sogar noch im rosa Trikot jene Attacken gestartet, die man laut Rundfahrtlehrbuch von den hinter ihm platzierten Rivalen erwartet hatte. Aber der Sizilianer, bis auf seinen Vuelta-Sieg vor zwei Jahren vor allem als ein mit dem Mut der Verzweiflung angreifender Zweiter oder Dritter des Gesamtklassements bekannt, hatte diesen Offensivgeist auch als Träger des Führungsleibchens beibehalten. „Er ist wie ich früher. Er hätte seinen Vorsprung bloß verteidigen brauchen. Aber er hat angegriffen. Er hat einfach Courage“, lobte die belgische Radsportikone Eddy Merckx, selbst fünfmal Giro-Sieger, seinen Nachfolger. Die in Wortspiele verliebte Gazzetta dello Sport glich mit „CanNibali“ den Nachnamen des Gelobten schnell an den Spitznamen des Lobenden an: „Kannibale“ wurde Merckx einst wegen seines unersättlichen Siegeshungers genannt. „Ich kann nicht anders. Das ist mein Naturell“, meinte Nibali, der sich vor Jahren schon wegen dieser Angriffslust den Kampfnamen „Hai von Messina“ verdient hatte.

Dass Italiens Sportberichterstattung immer noch an die semantische Aufrüstung ihrer Helden glaubt, macht solch einen Balztanz der metaphorischen Tötungsmaschinen möglich. In den fügt sich auch der „Killer“ aus den Abruzzen prima ein. Auch Di Luca hatte zeit seiner Karriere das Angriffsspektakel gesucht. Dabei hat er oft ungewöhnliche Entscheidungen getroffen. „Man nennt mich wegen meiner Kälte bei der Taktikwahl den Killer’“, erinnerte er stolz wenige Tage vor seinem schimpflichen Abgang.

Der „Killer“ hatte auch einige prominente Abschüsse zu verbuchen. Nicht so viele, wie der „Kannibale“ vorher verspeist hatte, aber mit Giro-Sieg und Erfolgen bei Klassikern wie Lüttich–Bastogne–Lüttich und Amstel Gold Race sowie der UCI-ProTour-Wertung 2005 ist Di Luca einer der komplettesten Fahrer seiner Generation. Bleiben wird von ihm wohl nur der schimpfliche Abgang. Von Merckx hingegen, der 1969 vom Giro wegen nachgewiesenen Amphetaminkonsums ausgeschlossen wurde, bleiben eher die Siege in Erinnerung – nicht das Doping.

Als Fortschritt in 43 Jahren darf man immerhin werten, dass im Gegensatz zu 1969, als die internationale Sportpresse nach dem Ausschluss des Belgiers von einer „Enthauptung des Giro“, einem „Komplott gegen Merckx“ und einer „absurden Sanktion“ sprach, Di Luca jetzt einhellig verurteilt wurde. Dass er dabei wahlweise als „Idiot“, „letzter Neandertaler“ und „Schande für den Sport“ bezeichnet wurde, klingt allerdings nach Überreaktion. Di Luca hat – vorausgesetzt, die B-Probe bestätigt die A-Probe – nur das gemacht, was er gelernt hat und was in seinem Beruf üblich war. Er ist dabei erwischt worden.

Verblüffend ist allein, dass in diesem Falle diese – angeblich – alten Tricks nicht einmal mehr von Erfolg gekrönt sind. Doping befördert den Betrüger nicht automatisch zum Gewinner – das ist die verblüffendste Erkenntnis dieses 96. Giro d’Italia.