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: Auf der „Langen Beuys Nacht“ in der Akademie der Künste am Pariser Platz

Ich hab die Menschen gesehen, die durch die Akademie der Künste flanierten auf der Suche nach dem vor 20 Jahren verstorbenen Beuys. Für ihn war die Nacht dort reserviert. Deshalb war der Künstler überall – auf Bildschirmen, auf Fotos, auf Leinwänden – und nirgends. Die Leute, die ihn suchten, standen vor Vitrinen, vor Lautsprechern, vor der Bar der Akademie im Erdgeschoss und jener ganz oben in der Lounge. Sie standen in Gruppen zusammen, warteten in Warteschlangen, saßen ordentlich in Sitzreihen nebeneinander. Manche trugen ihre Handtaschen über den Schultern, andere ihre Mäntel unterm Arm. Einige strichen sich in einer Sekunde der Nachdenklichkeit übers grau gewordene Haar; andere lächelten sich zu, obwohl sie sich nicht kannten. Es waren Menschen da, die unschlüssig herumstanden; einer schürzte die Lippen und zeigte selbstvergessen die Spitze der Zunge dabei. Einige Menschen hatten ihre Handys am Ohr; andere zogen bei einem linksseitigen Lächeln ihren Mund ganz sanft auf einer Seite nach oben. Es gab Leute mit hellblauen Schals und tief liegenden Augen. Schwer Atmende waren da und solche, deren Kopf leicht geneigt war, als sie ein Zitat von Beuys auf einem Plakat entzifferten. „Ich bin auf der Suche nach dem Dümmsten.“ Menschen mit Ehering waren da. Auch solche mit goldener Uhr. Einige trugen geschnürte Stiefel, andere führten ihre Körper auf hochhackigen Schuhen aus. Eine hatte eine Brosche auf ihrer Brokatmütze; eine andere kam mit einer Kette aus Kaurimuscheln daher. Alle aber hatten einen wachen Blick. Menschen mit weißen Fingernägeln wärmten ihre Finger an einem Glas Tee, andere hatten sehnige Hände. Einer zeigte auf das hell erleuchtete Brandenburger Tor, das blauer als sonst wirkte in der eisigen Kälte. Es gab Leute mit grauen Bärten und solche mit blonden Haaren. Einige küssten die, die sie begrüßten, flüchtig auf die Wange, andere nickten sich nur zu. Es gab Leute, die Filzjacken trugen und solche, die in einer Sekunde der Ermüdung vom Standbein aufs Spielbein wechselten, ohne es zu merken. Manche hielten sich beim Lachen die Hand vor den Mund, andere schauten auf die Uhr. Einer begann zu schnarchen, während der Film „Eurasienstab“ lief. Einige hatten ihre Haare im Nacken zusammengebunden, andere hatten den Wind eingefangen mit Haarspray. Einer mit hängenden Schultern zog seinen hochgerutschten Pullover über die Taille, eine andere legte ihre Brille zurück ins rote Etui. Manche standen mit verschränkten Armen herum, andere rieben sich die Augen. Wieder andere zogen ihren Fettstift über die Lippen. „Es gibt Leute, die sind nur in der DDR gut“, stand auf einem Plakat. Einige warteten vor dem Aufzug, bei anderen lugte die zusammenfaltete Zeitung aus der Tasche ihres grauen Jacketts. Menschen waren da, deren Gesichter gefurcht waren, und solche mit glatter Haut. Es gab Frauen mit krausen Haaren und andere mit schnellem Schritt. Große waren gekommen und welche, die nicht so groß waren. Ein paar saßen auf der Treppe, den Lautsprecher im Blick; andere kamen mit einem Kinderwagen daher; wieder andere sanken in sich zusammen beim Anblick von Beuys und seinem Kojoten. Es gab Menschen, die kamen. Einige aber gingen im gleichen Augenblick weg. Dem Meister wird’s recht sein. „Die Mysterien finden auf dem Hauptbahnhof statt“, schrieb er. Waltraud Schwab