Ein Klotz für Kreuzbergs Flaniermeile

Heute entscheidet die BVV Kreuzberg über den Bau eines Gesundheits- und Shoppingcenters in der Bergmannstraße. Viele Anwohner lehnen das Projekt vehement ab. Der grüne Baustadtrat hat keine Bedenken – er hofft auf Steuern und Arbeitsplätze

Ein Gutachter rechnete vor, wie viele hundert Autos die Bergmannstraße zusätzlich vertrüge

von Edith Siepmann

Für die Bewohner des Bergmannstraßen-Kiezes wird ein Albtraum wahr. Im März fährt schweres Gerät in der beliebten Kreuzberger Flaniermeile vor, um Platz für eine Tiefgarage und 15.700 Quadratmeter Neubaufläche zu schaffen. Abgerissen wird dabei ein historisches Kleinod, das kaum jemand kennt: die Ende des 19. Jahrhunderts erbaute „Habelsche Trinkhalle“. Der vordere Teil der Straße mit ihren Cafés und Trödelläden wird für mindestens zwei Jahre zur Großbaustelle.

Seit zwei Jahren bemüht sich der Münchner Investor Reinhard Wagner von der Wabe Bauentwicklung GmbH, auf dem Grundstück das 30-Millionen-Euro-Projekt eines Gesundheits-, Wellness- und Ärztezentrums mit Supermärkten und Parkplätzen zu verwirklichen – mitten im nach strengen Denkmalschutzkriterien sanierten Gründerzeitviertel um den Chamissoplatz.

Nachdem das Quartier aus den Auflagen für das Sanierungsgebiet entlassen wurde, hat Wagner mit Unterstützung durch den grünen Baustadtrat Franz Schulz einen Plan B für sein Grundstück erstellt, der den gültigen Bebauungsplan ersetzen sollte. Der sah auf dem ehemaligen Brauereigelände mit altem Baumbestand und einem denkmalgeschützten Bewag-Umspannwerk auch die Ausweisung von Flächen zur gemeindenahen Nutzung sowie den Erhalt und die Entwicklung von Freiflächen für den hoch verdichteten Kiez vor.

Der neue Plan hingegen sollte es ermöglichen, das Areal mit möglichst viel Nutzfläche zu überbauen. Alle anderen Konzepte seien unwirtschaftlich gewesen, meint der Investor, der durch kostspielige Projekte wie den Umbau des Umspannwerks am Paul-Lincke-Ufer oder eines Gründerzeitkomplexes in der Arndtstraße mit schwer vermietbaren Gewerbeflächen in die finanzielle Bredouille kam. Auch mit der Entmietung eines Eckhauses in der Spandauer Vorstadt, das er sanierte und später versteigern ließ, machte er sich nicht nur Freunde.

Der grüne Baustadtrat kann sich mit dem Mammutprojekt in der Bergmannstraße anfreunden: Aus seiner Sicht winken Gewerbesteuer und über 250 neue Arbeitsplätze im Bezirk. Dass es sich größtenteils um die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus funktionierenden Arztpraxen, Apotheken und Supermärkten in das Center handelt, interessiert ihn nicht. Schulz argumentiert mit Synergieeffekten, mit „kurzen Wegen, weil wir doch alle mal krank werden“. Vom Onkologen zum Zahnarzt zum Podologen in wenigen Schritten an einem Vormittag – so sollen sich die Anwohner die schöne neue Welt der Gesundheit vorstellen.

Was Schulz auch architektonisch als Aufwertung des Kiezes empfindet, zeigt sich als 55 Meter lange Unterbrechung einer gewachsenen Gründerzeitstruktur, ein zum Gähnen langweiliger Klotz aus Beton und Glas, wie er jetzt überall in Berlin steht. Dass das zu erwartende Verkehrsaufkommen den Charakter der Bergmannstraße als Schlendermeile mit kleinen Lädchen und Cafés beeinträchtigen wird, nimmt der Baustadtrat dabei ebenso in Kauf wie den Abriss der 1880 errichteten Trinkhalle der Habelschen Brauerei mit ihren Stuckdecken und Resten der originalen Wandmalereien.

In den letzten Wochen bekam der Investor übrigens ein neues, kulturbetontes Nutzungsangebot aus dem Umfeld der Zeitschrift Titanic. Die von den Titanic-Machern gegründete „Partei“ hatte vor zwei Jahren Räume im Bewag-Umspannwerk bezogen und auch einen kleinen Biergarten auf dem Gelände betrieben. Dieses Konzept beschränkte sich auf ein Investitionsvolumen von 5 Millionen Euro und sah den Erhalt der Trinkhalle und des Gartens sowie ein kleiner dimensioniertes Ärztehaus vor. Ein auf Kreuzberger Bedürfnisse zugeschnittener Platz für Experimentelles und Spontanes wäre erhalten geblieben. Kein Thema für den Investor: Der will und muss klotzen, auch wenn das Risiko einer weiteren Investitionsruine groß ist. Die Banken wollen bedient werden, auch wenn teure Gewerbeflächen in der Bergmannstraße leer stehen, wie etwa seit Jahren in dem edel sanierten Altbau gegenüber. Profit gegen Kultur, Discounter gegen Markthalle, Autos gegen Fußgänger, Betonklotz gegen gewachsene Strukturen – das sind die Gebote der neuen Berliner Gründerzeit, auch in Kreuzberg.

Was die betroffenen Anwohner am meisten ärgert, ist die Alibi-Funktion, die ihre Proteste hatten. Der Baubehörde ist die Beteiligung der Bürger vorgeschrieben, um Anwohnern mehr Mitsprache bei wichtigen baulichen Änderungen in ihrer Umgebung einzuräumen. Tatsächlich gab es viele kritische Eingaben zum Center-Projekt. Sie wurden jedoch mittels zweier vom Eigentümer in Auftrag gegebener Gutachten zur Verkehrsverträglichkeit und Einzelhandelskonkurrenz abgebügelt.

Abweichungen vom gewünschten Bauplan wurden von Behördenseite nur so weit eingeräumt, als sie sich ohnehin aus Sachzwängen wie verweigertem Zufahrtsrecht oder denkmalrechtlichen Erwägungen ergaben. Gleichzeitig wurden sie den Bürgern als ihr Erfolg verkauft. Bei der projektierten Tiefgarage hatte der Investor mit 280 Plätzen vorausschauend hoch gepokert. So konnte er sich später „wegen der Bürgerproteste“ mit 112 Plätzen bescheiden. Ein detailliertes Gegengutachten des Mietervereins zum Verkehrsaufkommen wurde nicht berücksichtigt. Dafür rechnete ein anderer Gutachter den Anwohnern vor, wie viele hundert ein- und ausfahrende Autos die Bergmannstraße zusätzlich vertrüge.

Den krönenden Abschluss dieses Schauspiels bot die öffentliche Sitzung des Planungsausschusses am vergangenen Donnerstag. So zahlreich, wie die Bürger erschienen waren, um im Saal der Bezirksverordnetenversammlung an der Yorckstraße Politik live zu verfolgen, so zahlreich waren auch die Fragen, die von den abstimmungsberechtigten Politikern nicht beantwortet wurden. Stattdessen ergriff immer wieder der Investor das Wort, unterstützt vom grünen Stadtrat Franz Schulz, der das umstrittene Projekt mit unbewegter Miene als einzig mögliche Lösung verteidigte.

Dass ein Großteil der Anwohner sich ärztlich, einkaufs- und wellnessmäßig gut versorgt fühlt und auch an einer Privatklinik nicht interessiert ist, wurde nur stumm zur Kenntnis genommen. Selbst auf die Frage einer Bürgerin, ob die Bezirksverordneten etwa Schlaftabletten genommen hätten, kam keine Reaktion. Zum pünktlichen Abschluss der grotesk anmutenden Sitzung um 20 Uhr nickten die Volksvertreter aller Fraktionen bei nur zwei Gegenstimmen das Bauvorhaben „Bergmannstraße 5–7“ in der von Investor Wagner gewünschten Form ab. Das erregte Volk durfte abtreten, an die zwanzig neue Nichtwähler wurden an diesem Abend gewonnen.

Auf ihrer heute um 18 Uhr beginnenden Sitzung wird die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg der Tischvorlage „Gesundheitscenter Bergmannstraße“ zustimmen. Auch diese Sitzung ist öffentlich. Rathaus Kreuzberg, Yorckstraße 4–11