Der glücklichste Mensch auf dieser Welt

MILDE GABE Berge besteigen, die es gar nicht gibt: Martin Walser schreibt eine Novelle über den Glauben

Martin Walser hat, so scheint es, in hohem Alter noch einmal den Versöhnungskurs eingeschlagen. Bei der Eröffnung des neuen Suhrkamp-Stammsitzes in Berlin wurde er, sicher der prominenteste der Abtrünnigen nach dem Tod Siegfried Unselds, in bester Stimmung gesichtet; auch seine neue Publikation ist – was deren literarischen Wert keineswegs schmälert – eine milde Gabe: „Mein Jenseits“ ist ein von Walser zur Novelle umgearbeitetes Kapitel seines noch unveröffentlichten Romans „Muttersohn“; ein Freundschaftsdienst und eine Anschubhilfe für Verleger Gottfried Honnefelder und dessen Verlag Berlin University Press.

Es ist ein Alterstext, was nicht weiter verwundert, weil sich die Alterstexte im Walser’schen Spätwerk aneinanderreihen; „ein fortwährendes Weiterschreiben“, wie er selbst es nennt, an einem, dem großen Roman. „Mein Jenseits“ ist (auch das ist nicht neu) ein Buch über die Angst, vor allem ist es aber ein Text, der subtil und in die unterschiedlichsten Richtungen hin erkundet, woran man glauben kann und darf; woran es sich lohnt zu glauben und woran nicht. Augustin Finli heißt die Hauptfigur, ein Walser-Charakter wie aus dem Lehrbuch, eingebettet in das bekannte Bodensee-Ambiente, Chef des Psychiatrischen Landeskrankenhauses; ein Mann, der von sich behauptet, er habe im Alter von 63 Jahren aufgehört zu zählen.

Finli fühlt sich, nicht zu Unrecht, in seiner beruflichen Position bedroht von seinem Oberarzt Dr. Bruderhofer, der zudem noch dessen alte und keineswegs erledigte Liebe Eva Maria geheiratet hat. Eva Maria hat nicht zum ersten Mal einen anderen vorgezogen, dessen ungeachtet schreibt sie regelmäßig Postkarten: „In Liebe“. Das kann man glauben oder nicht.

Genau darum geht es letztendlich, denn Walser hat seiner Novelle eine transzendente Ebene eingezogen. Der letzte Abt des örtlichen Klosters war ein Vorfahr Finlis. Zwei Jahrhunderte später unternimmt Finli einen Wirklichkeitstest, stiehlt eine wertvolle, in eine Monstranz eingearbeitete Reliquie (ein Bergkristall, in dem sich einige Tropfen des Blutes Christi befinden sollen) aus der Sakristei und sieht zu, wie an Christi Himmelfahrt der sogenannte Blutritt, ein prächtiges katholisches Spektakel, stattfindet wie in jedem Jahr sonst auch. Finlis zuvor gehegter Gedankengang findet seine Bestätigung: „So tun, als sei das Blut echt, ist mir genauso unangenehm wie das alles für ein Verdummungsmanöver zu halten. Wissen, dass das Blut nicht echt ist, aber glauben, dass es echt sei, das wäre das, was die Reliquie zu einem unvergänglichen Schatz machen würde.“

In diese Schnittstelle zwischen Ratio und Glaubensbekenntnis, zwischen Wirklichkeit und Gefühl stößt „Mein Jenseits“. Dazwischen liegt die Hoffnung auf Seligkeit und Erlösung, seien sie weltlicher oder göttlicher Natur – und auf deren Vermittelbarkeit, auf die Sichtbarkeit. Alles besteht schließlich aus Symbolen – die Liebe, die Existenz des Ego, die Sprache selbst. „Glauben heißt, Berge besteigen, die es nicht gibt.“ Man traut alldem oder nicht – das ist die Lebensfalle. Wer dort hineintappt, droht als verschroben betrachtet zu werden. „Mein Jenseits“ enthält bestechende Passagen über das Wunderlichsein.

Augustin Finli, der Erzähler, bemerkt gleich zu Anfang: „Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst. Wenn mir das gelingt, wenn mir das gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch in dieser Welt.“ Das ist die schwierigste aller Aufgaben, die in diesem leichthändigen und zugleich schwergewichtigen Text nicht gelöst, aber wunderbar vorgeführt wird.

CHRISTOPH SCHRÖDER

Martin Walser: „Mein Jenseits“. Berlin University Press, Berlin 2010, 120 Seiten, 19,90 Euro