„Ich will noch was erleben“

FAMILIENBANDE Ruth Pippia verbrachte fast ihr ganzes Leben im Rheinland – und feiert heute ihren 79. Geburtstag in Berlin

Von wegen, einen alten Baum verpflanzt man nicht. „Auf mich trifft das nicht zu“, sagt Ruth Pippia, die 78 Jahre verwurzelt war im Rheinland. Im beschaulichen Bergisch Gladbach wurde sie geboren, in der Praxis, wo sie als Arzthelferin arbeitete, hat sie ihren Ehemann kennengelernt, als ihre Kinder aus dem Haus waren, hat sie ehrenamtlich Patienten im Krankenhaus besucht. Nachdem ihr Mann im März 2012 gestorben war, hat sie ein Dreivierteljahr später dem Rheinland mit seinem Frohsinn den Rücken gekehrt und ist nach Berlin gezogen, an dem Schnapszahldatum 12. 12. 2012. Dorthin, wo ihre Tochter Beatrice wohnt mit zwei kleinen Jungs und auch ihr Sohn Claudius mit zwei Töchtern fast im Teenageralter.

„Nicht eine Sekunde habe ich den Schritt bereut“, erzählt sie ein halbes Jahr nach dem Umzug, den ihr Sohn für sie erledigt hat. Als ihre Tochter sie nach dem Tod ihres Mannes fragte, ob sie sich vorstellen könne, nach Berlin zu ziehen, habe sie nicht lange überlegt: „Natürlich, ja! Ich komme zu euch. Ich will noch was erleben.“ Bis auf eine gute Freundin und einen Bruder hinterlässt sie nicht viele Freundschaften in der alten Heimat. „Deshalb war das kein großer Schmerz.“ Zweifel haben sie nur selten befallen. „Einmal“, sagt sie, „konnte ich nachts nicht schlafen und fragte mich, oh Gott, hat die neue Wohnung einen Fahrstuhl?“ Sie hat. Und dazu ist die neue Wohnung, die ihre Tochter organisiert hat, sogar günstiger als die in Bergisch Gladbach. Heute noch lacht sie über den Kommentar ihres Sohns, der ihren Schritt mit einem einzigen Wort kommentierte: „Geil.“

Den Wald vor der Haustür hat sie eingetauscht gegen den Prenzlauer Berg, wo sie um die Ecke vom Arkonaplatz in einer hellen Zweizimmerwohnung wohnt. Mitgenommen hat sie einige Möbel und Dutzende Fotoalben. Die füllen eine Etage eines Wandregals, das ihr Mann gebaut hat. Auch ihn hat sie in die neue Heimat mitgenommen – seine Asche ruht in einer Urne im Schlafzimmer. „Meine Kinder waren überzeugt, dass ihr Papa den Umzug gut gefunden hätte“, erzählt sie in ihrem rheinischen Singsang.

Nicht weit zu den Kindern

Zu ihren Kinder hat sie es von ihrem neuen Heim nicht weit: zwei U-Bahnstationen entfernt wohnt die Tochter, und der Sohn lebt und arbeitet so nah, dass sie ihn zu Fuß besuchen kann – wenn es die Arteriosklerose erlaubt, die „im Gebälk knirscht“. Ruth Pippia ist in erster Linie wegen der Kinder und Enkelkinder nach Berlin gezogen. Aber sie freut sich auch über „das pulsierende Leben“.

Sie isst Pizza im Biergarten von Clärchens Ballhaus, sie geht zu Lesungen, oder die Kinder laden sie zum Frühstück ein, das für sie „eher ein Spätstück ist“, wie sie lachend erzählt. Gern ist Ruth Pippia auf dem Arkonaplatz, beobachtet die Menschen, unterhält sich mit jungen Müttern ebenso wie mit Obdachlosen. „Ich brauche Leben und freundliche Gesichter. Das erweitert den Horizont.“ Ruth Pippia ist aufgeschlossen. Und sie kann gut allein sein, „ein Geschenk des Himmels“. Auch einen Verein hat sie bereits gefunden, um vielleicht bald wieder ehrenamtlich Patienten im Krankenhaus zu besuchen.

Heute feiert Ruth Pippia ihren 79. Geburtstag. Den ersten an der Spree. Sie wird ihn mit ihrer Tochter und deren Familie verbringen – der Sohn ist mit seiner Familie unterwegs. Sie werden zusammen essen gehen. Ihre Tochter hat festgestellt, dass die Mutter, seit sie in Berlin lebt, beim Essen experimentierfreudiger geworden ist. Ruth Pippia hat nach einem halben Jahr neue Wurzeln geschlagen und freut sich auf all das Neue, das noch kommt. BARBARA BOLLWAHN