ZU SPÄT, SICH ZU ÄNDERN
: Alte Interviews, alte Lieben

VON DETLEF KUHLBRODT

Der Potsdamer Platz sah so schön aus wie noch nie, als die Berlinale so allmählich in Fahrt kam. Der Himmel war klar, die Luft war super und der fallende Schnee reflektierte die tanzenden Lichter vor dem Eingang des Berlinale Palasts. Teure Limousinen, wie zum Beispiel Bentleys, fuhren vor, denen berühmte Personen der Zeitgeschichte entstiegen. Glücklich trank ich eine kalte Flasche Bier und eilte dann in den neuen Film von Sharunas Bartas. „Drei Tage“, das wortkarge melancholische Spielfilmdebüt des litauischen Regisseurs, das ich 1992 im Forumsprogramm gesehen hatte, zählt zu meinen Alltime-Berlinale-Highlights. Die fünf Filme, die er danach gemacht hatte, waren bis auf einen gar nicht bis nach Berlin gekommen. Sein neuer Film, in dem er auch die Hauptrolle spielt, ist ein existenzieller Thriller, der in Litauen, Russland, Polen, Weißrussland und Frankreich spielt. Der Held macht Drogengeschäfte mit der russischen Mafia, wird betrogen, rächt sich und flieht dann mit seiner Freundin, die meiner Mitbewohnerin erstaunlich ähnlich sieht. Es war ein schöner Start. In der Nacht las ich das Interview noch einmal, das ich damals mit Bartas gemacht hatte.

Der Filmemacher – in „Eastern Drift“ durchaus auch Actionheld – war damals genauso schüchtern gewesen wie ich. Er hatte u. a. gesagt, Traurigkeit sei sein Lieblingsgefühl und dass es eine Grundstimmung gebe, in der die Leute schon sind, wenn sie geboren werden, und „wenn man geboren ist, ist es schon zu spät, sich zu ändern.“

Ich überlegte, ihn noch einmal zu interviewen, und ging am nächsten Nachmittag ins Forum-Büro, um seine Nummer zu erfragen. Im Treppenhaus kam mir ein rauchendes Pärchen entgegen. Erst als sie schon vorbei waren, hatte ich Sharunas Bartas und seine Hauptdarstellerin erkannt. Komplett perplex sagte ich, dass wir vor 18 Jahren schon einmal miteinander gesprochen hätten, dass ich „Drei Tage“ so supertoll gefunden hatte und dass mir sein neuer Film auch gut gefallen habe. Er zögerte, konnte sich nicht erinnern, dankte höflich. Und war dann weg. Ich schämte mich kurz und ging dann in diesen komplett total fertigen Film von Thomas Vinterberg.

Am nächsten Tag – es war noch ein bisschen Zeit, bevor Rob Epsteins und Jeffrey Friedmans „Howl“ angepfiffen werden sollte, hatte ich neben zwei netten Damen gesessen. Sie fragten sich, wer „dieser dicke Grünen-Politiker da hinten“ wohl sein mochte. Ein Freund Joschka Fischers, so viel schien klar, denn die eine hatte „ein lustiges Foto“ von den beiden. Meiner Ansicht nach handelte es sich um diesen süddeutschen Politiker, dessen Name mir auch grad nicht einfiel; er hatte aber glaube ich mal bei der grünen Fußballmannschaft im Tor gestanden.

Erst hatte ich den Film gar nicht sehen wollen, weil Allen Ginsberg ein so großer Held meiner Jugend gewesen war, dann war die animierte Verfilmung des berühmten Beatnikgedichts, die Reinszenierung der irren Prozesse wegen Obszönität, die die Veröffentlichung nach sich gezogen hatte, die Reinszenierung von Interviews mit Allen Ginsberg zu „Howl“, doch ganz okay gewesen. Auch wenn die echten Ginsberg-Aufnahmen aus den Fünfzigerjahren logischerweise mehr berühren, ist James Francos Vortrag sehr nahe am Original dran, wovon sich jeder im Internet überzeugen kann. Der lustigste Satz des Films war: „Großer Tag für Dichter / die Muse trotzt dem Richter“.

Dann war es High Noon sozusagen. Gleich sollte der neue Scorsese-Film beginnen. Ich saß im vierten Stock des Berlinale Palasts direkt vor dem Abgrund. Das Licht war gerade ausgegangen, als eine Frau sich neben mich setzte. Ihr Nähe fühlte sich vertraut an. Während der spannende Film seiner Wege ging, für Momente gar an „Shining“ erinnerte, stellte ich mir vor, dass es sich um eine liebe Kollegin handelte, die ich lange nicht gesehen hatte. Als der Film dann in der letzten halben Stunde etwas komisch wurde, nahm ich mir vor – sollte es sich tatsächlich um die Kollegin handeln –, sie zu fragen, ob wir nicht heiraten sollten. Dann war der Film zu Ende, im Halbdunkel des endlosen Abspanns schaute ich neben mich. Ihre Haare sahen ganz anders aus, sie war es gar nicht. Ich hoffte, die Kollegin im Lauf der Berlinale wieder zu sehen. Vielleicht werden wir gar nicht heiraten; sie hat ja bestimmt schon einen Freund. Aber ein paar Meter würden wir Hand in Hand gehen, und alles würde wunderschön sein.