NEUE BEWEGUNG DER HEIMREISE-PHOBIKER BRICHT MIT ALTEN FESTTRADITIONEN: Lieber in Peking bleiben, als zur Familie aufs Land fahren
NEBENSACHEN AUS PEKING
Vor einem Jahr erklärte unser Bekannter Wang im Brustton der Überzeugung: „Zum Frühlingsfest nach Hause zu fahren ist Tradition. Geht nicht anders, das liegt uns Chinesen im Blut!“ Mit seiner gewaltigen Plastiktasche voller Mitbringsel schleppte sich der Wanderarbeiter, der seit sieben Jahren in Peking wohnt, zum Bahnhof. Er quetschte sich fast zwanzig Stunden lang in die „Harte-Sitze-Klasse“ und erreichte nach mehrmaligem Umsteigen erschöpft sein Dorf in der Provinz Anhui.
Nun haben wir wieder Frühlingsfest. Nach dem traditionellen Mondkalender beginnt am Montag das Jahr des Tigers. In ganz China sitzen die Familien zusammen, essen Berge gefüllter Teigtaschen und fürchten sich schon leise vor den vielen Verwandtenbesuchen der nächsten Tage.
Aber wie immer, wenn chinesische Freunde erklären, etwas stehe felsenfest fest und sei in China schon rein kulturell gar nicht anders denkbar, ist das Gegenteil genauso wahr. In diesem Jahr ist Wang in Peking geblieben. Er habe keine Lust, sein Dorf zu besuchen, sagte er, „zu umständlich.“ Leute wie Wang gehören zu einer neuen Bewegung von Chinesen, die als „Heimfahrts-Phobiker“ bezeichnet werden. Die Medien sind seit Wochen voll von Bekennerschreiben nach dem Motto: „Ich fahr nicht, meine Mutter nervt, weil wir noch kein Kind haben.“
Die Zeitung Meixinribao zählte nach einer Umfrage unter Heimfahrts-Phobikern die fünf wichtigsten Gründe auf: kein Geld; kein vorzeigbarer Job; Fahrtkosten zu hoch; Familie erwartet immer teurere Geschenke; ich will mich nicht rechtfertigen, warum ich noch nicht verheiratet bin. Bei einer ähnlichen Umfrage des Staatsfernsehens CCTV lautete eine weitere Antwort: „Bin alte Traditionen leid.“
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