ANONYMITÄT? JA BITTE!
: Stadtluft befreit

Gemeinschaft ist nicht Freundschaft und Anonymität nicht Einsamkeit. Das vergessen viele, wenn die „Anonymität der Großstadt“ mal wieder als Sündenbock herhalten muss. Wenn die Leiche einer Rentnerin erst nach Wochen gefunden wird. Wenn Menschen die Dorfidylle beschwören, in der man sich angeblich noch um andere kümmert.

Dabei ist schon in der Schule die vielzitierte „Klassengemeinschaft“ in erster Linie eine Zwangsgemeinschaft – Tratsch und Mobbing sind häufig unvermeidbar, Konformität wird belohnt, Andersartigkeit bestraft. In durchaus vergleichbarer Form findet man das auch auf dem Land. Dorfgemeinschaft bedeutet oft: knallharte soziale Kontrolle.

Außerdem sind Städter keine unsozialen Roboter, keine anonyme Masse und keine selbstverliebten Egomanen, auch wenn man sie gerne als solche beschimpft. Die Stadt bietet Kneipen und Clubs, Vereine und Lesebühnen, Parks und Schwimmbäder. Alles Orte, an denen Menschen Beziehungen außerhalb von Facebook und Twitter pflegen.

Es ist gut, dass unser Verhalten in der Stadt nur den eigenen Freundeskreis interessiert. Wer im Dorf durchs Raster fällt, findet in der Stadt Anschluss: die Alternativen, die Schrillen, die irgendwie Anderen. Sicher, auch die Anonymität hat ihre Schattenseiten, sie gleichzusetzen mit Ignoranz und sozialer Kälte ist aber verkürzt. Vielen ermöglicht sie, „nach eigener Fasson“ glücklich zu sein und die Möglichkeit für einen Neuanfang. CHRISTIAN SIMON