Der nahrhafte Herr Goethe

Ein Gespräch mit der Trägerin des Bremer Literatur-Förderpreises, Svenja Leiber, über Kultur als Spiegel von Sinnentleertheit, das tote Dorf und die Vorteile der Naivität

taz: Der Befund in Ihren Erzählungen scheint ziemlich klar: Das alte Dorf gibt es nicht mehr. Aber was damit eigentlich verloren geht, sozusagen die Schadensabschätzung, bleibt eher undeutlich.

Svenja Leiber: Was ich als Schaden sehe, ist, dass da nichts mehr da ist. Was aber nicht damit gleichbedeutend ist, dass das, was weg ist, noch tragend wäre. Das war ein Rest von Religiösität, der einfach weg ist und ein Stück weit Bodenverbundenheit, die aber wegen der deutschen Vergangenheit vorbei ist. Aber es stimmt: Ich will nicht beurteilen, was den Verlust wirklich ausmacht. Aber das ein Vakuum da ist, das gefüllt werden muss, wenn man kein bloßes Vegetieren haben will, beschäftigt mich.

taz: Und das sehen Sie vor allem im sterbenden Dorf?

Das ist natürlich nicht auf das Dorf beschränkt – es ist für mich einfach der erste Ansatz und das, was mich zuerst geprägt hat. Aber es ist ein Thema unserer gesamten Kultur: Dass wir keine lebendige Kultur haben. Wir haben etwas kulturell Aufgesetztes, aber ich glaube nicht, dass das von innen heraus stattfindet.

taz: Aber wann hätte Kultur je als Transzendenz-Ersatz getaugt?

Leiber: Das ist ja die Problematik. Wir haben nichts anderes – aber wir brauchen einen Sinn. Und ich bin der Meinung, dass das Theater oder auch die Literatur heute Spiegel dieser Sinnentleertheit sind und deswegen auch nicht mehr bieten können.

taz: Wobei Kultur in der Vergangenheit, zumindest als Hochkultur, meist auf Kleinstgruppen beschränkt war.

Leiber: Natürlich war es immer eher ein Ideal als die Wirklichkeit. Aber die Frage ist: Was ist heute unser Ideal? Und heute ist es nicht einmal mehr unser Ideal. Wir leben in einem unheimlichen Wohlstand, reden darüber, das er uns abhanden kommen könnte und merken darüber nicht, dass wir ein degeneriertes Volk sind. Man darf auch gar nicht idealistisch sein: es gilt als naiv. Aber ich bin dann ehrlich gesagt gerne naiv, um diese Fragen verfolgen zu können.

taz: Ihre Erzählungen sind eher sachliche Bestandsaufnahmen.

Leiber: Das ist der Punkt, wo ich selber mit meinen Texten inzwischen nicht mehr so einverstanden bin. Das was ich bisher schaffen konnte, war tatsächlich eher eine Bestandsaufnahme, aber kein positiver Entwurf zum Leben. Ich war eigentlich erschrocken darüber, dass die Texte in den Rezensionen so horrorartig besprochen wurden. Sie waren zu meinem Erstaunen ja gut, aber es wurde sehr betont, dass eine sehr spitze Feder schreibt.

taz: Wie Sie auch die Nähe zu jenen 30-Jährigen Prenzlauer-Berg-AutorInnen meiden, die sich ziemlich ausschließlich mit ihrer Stadt und ihrer Generation befassen.

Leiber: Ich habe persönlich gar nichts gegen die Autoren meiner Generation, die über unser Leben schreiben. Es interessiert mich nur nicht, weil es mir nichts Neues bringt. Es ist immer das Gefühl: das kenne ich ja.

taz: Und welche Literatur ist für Sie ergiebig?

Leiber: Echte Nahrung finde ich bei unserem Klassiker Herrn Goethe. Da habe ich den Eindruck, da hat es ein Mensch geschafft, immer dem Leben zuzusprechen. Selbst die Wahlverwandtschaften haben immer wieder zur Grundlage: Wie finden wir zum Leben? Aber deswegen lesen ihn junge Leute auch nicht, weil er für sie langweilig ist. Interview: Friederike Gräff