Raus aufs Land

Los geht’s mit der Regionalbahn durch Berlin und raus aufs Land. Die Bahn fährt los, und wir verabschieden uns von den Menschen auf den Werbeplakaten. Am Hauptbahnhof füllt sich das Abteil; Jugendgruppen, SeniorInnen und Kegelvereine fahren über das Wochenende an die Ostsee. Ruhe, Entspannung, Sonne und eine frische Brise, die einem die Gedanken im Kopf durchwirbelt? Zwei Freundinnen mit rotem Kurzhaarschnitt freuen sich auf Fischbrötchen, eine Jugendclique hat vorsichtshalber Parecetamol eingepackt, dafür aber einen Schlafsack vergessen.

Vorbei an Britz, Chorin und Warnitz. Sattes Grün. Smartphones blinken im Facebook-Blau auf, klingeln mit Chart-Hits oder klassischer Musik. Vogelgezwitscher aus dem Handy. Ein junger Backpacker auf dem Weg nach Greifswald entblättert sich, wirft den großen Rucksack mitsamt den dreckigen Gummistiefeln in die Gepäckablage.

Wo beginnt eigentlich Land? Zum Beispiel hier in Seehausen, gut 200 Einwohner, einem Urlaubsort irgendwo in der Uckermark. Wir folgen der Dorfstraße in die Bungalowsiedlung, die idyllisch an einem See gelegen ist. „Black Pearl“, „Diana“ und „Der Blaue Milan“ heißen die Boote am Steg.

Nicht weit vom See entdecken wir das von der Nachbarschaft ins Leben gerufene Insektenhotel „An der Lanke“. Es wurde aus Stroh, Heu, Bambusstäben und anderen Naturmaterialien gebaut und bietet Insekten aller Art eine Überwinterungshilfe.

An der menschenleeren Dorfstraße, hinter einer Hecke, befindet sich ein Tennisplatz. Hier erzählt uns ein sportlicher älterer Mann von einem Ereignis, das es sonst nirgends in Deutschland gibt: der Eselkarawane, die in Seehausen haltmacht.

Übernachten kann die Karawane „Am Gutshof“. Zu finden ist die Pension über schmale Pfade und Wege, die mit großen Pappaufstellern und Plakaten von bekannten Eisherstellern geschmückt sind. Zurück zur Dorfstraße. Hier hat jemand Selbstgemachtes auf einen Plastiktisch vor das Einfamilienhaus gestellt: Honig, Frühlingszwiebeln und Rhabarber. Wir nehmen zwei Bund Gemüse mit, werfen Münzen in den dafür vorgesehen Briefkasten und reisen vollbepackt zurück nach Berlin.

Bald sind wir wieder im Getümmel. Es ist laut, es ist hektisch, irgendwo spielt ein Akkordeon. Es riecht nach Metropole – und nach Zwiebeln und Rhabarber. ELIF GÜZEL, FABIO SANTOS

Rein in die Stadt

Im Sonnenlicht ergraute Scheunen stehen zwischen einstöckigen Häusern. Maiskolben trocknen unter einem Hausdach. Ein Pony grast auf einer Koppel. Wir sind in einem Dorf irgendwo auf der Bahnstrecke zwischen Stralsund und Berlin. Neben den Schienen quaken Frösche. Der Zug rauscht heran, die Türen springen auf. Der Zug ist voll, aber kein Mensch steigt aus. Alle wollen in die Hauptstadt.

Wir drücken uns durch die Türe, klettern über Fahrräder, Rucksäcke und ausgestreckte Beine. Ein hochgewachsener Mann, der aussieht, als sei er einer Bierwerbung entsprungen, aber eine Club-Mate-Flasche in der Hand hält, erzählt von seinem Segeltörn. Eine Gruppe berucksackter Kinder staunt über die Geschichten von zwei angetrunkenen Herren mit Piratencharme. „Sind wir jetzt endlich da-ha?“, nölt ein kleines Mädchen im Prinzessinnenkleid, als es seinen Blick für einen Moment von Mamas Smartphone lösen kann.

Kiefern und Birken fliegen an uns vorüber – die Landschaft von Bahnwärter Thiel, der seinen Sohn an das Monster verliert, in dem wir über die Schienen brettern. Die Stadt kommt näher. Statt Bussarden kreisen nun Tauben am Himmel. Graffitis säumen die Bahntrasse.

Berlin Hauptbahnhof. Die Reisegesellschaft erhebt sich und gibt den Blick auf die Sitze frei: kullernde Flaschen, zerknüllte Tüten, Flecken auf den Polstern. Sieht so der Stoff aus, der das Land mit der Stadt verbindet? Die Zugdurchsage bringt es auf den Punkt: „Mind the gap!“

Stimmengewirr. Leuchtreklame. Der Geruch von Alkohol. Genervte Ortskundige drücken sich an Seniorengruppen mit knatternden Rollkoffern vorbei. Der Bahnhof gleicht einer Ameisenkolonie. Ein Akkordeonspieler fängt mit seiner Melodie die Hektik ein.

Mit der S-Bahn weiter zum Alexanderplatz. Eine Reise durch die Gedärme der Stadt. Es ist, als würde man von ihr verschluckt und wieder ausgespuckt. Danach fühlt man sich anders – stumpfer, tauber. Ein Wurstverkäufer summt grinsend eine Melodie und klappert mit der Zange an seinen Bauchladen. Frank Sinatras „New York, New York“ dringt aus seinen Kopfhörern. Ein hagerer Mann mit grauem Pferdeschwanz schlägt einer älteren Dame im Kostüm auf den Hintern. Sie lacht. Er zieht weiter, als wäre nichts geschehen. Die Straßenbahn kommt neben uns zum Stehen. Wir fahren mit, immer tiefer in die Stadt.

ANNA BERGER, MARISSA HERZOG