ROBERT MISIK ZU DEN PROTESTEN IN DER TÜRKEI
: Mehr als Istanbul 21

Was geht da vor in Istanbul? Ein Aufstand wegen eines Parks, der einer Shoppingmall weichen soll? Also so etwas wie Stuttgart 21?

Nicht ganz. Die Proteste entzündeten sich tatsächlich an einem überschaubaren Konflikt. Was aber die Massendemonstrationen auslöste, waren die Brutalität, mit der die Polizei reagierte, und der Frust über eine autoritär agierende Regierung und insbesondere über das, was sie unter „Modernisierung“ versteht.

Die Regierung Erdogan agiert zunehmend autoritär und mit aggressiver Rhetorik. Die konservativ-islamischen Machthaber mischen sich in das Leben der Leute ein, gerade eben wurden weitreichende Alkoholverbote erlassen. Nicht nur das: Im Zuge der Modernisierung werden ganze Stadtviertel werden plattgemacht. Das Lebendige der urbanen Zentren wird zerstört, und die Viertel, in denen das blüht, was die Frömmler den „dekadenten westlichen Lebensstil“ nennen, gleich mit.

Mit dieser Politik hat sich die Regierung in Gegnerschaft zu weiten Teilen der städtischen Bevölkerung gebracht. Ihr schlägt nicht mehr nur die Abneigung der urbanen Kulturmilieus entgegen. Sie ist auch moderaten Gläubigen, moderaten Konservativen und Liberalen fremd geworden. Die Proteste treffen eine Regierung, die ihre Werte und den von ihr präferierten Lebenstil anderen Leuten aufzwingen will. Gewiss, auch bei Stuttgart 21 ist es nicht nur um Bäume und einen Bahnhof gegangen, sondern um Demokratie, um Partizipation und einen Regierungsstil, der einfach über die Bürger drüberfährt.

Die Demonstranten in Istanbul wenden sich gegen den autoritären Stil von Erdogans machttrunkener und korrupt-wirtschaftsfreundlicher Kamarilla, die der Zivilgesellschaft die Luft abschnürt.

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