Weltverbesserer vor Gericht

WIKILEAKS Am ersten Prozesstag hält der angeklagte US-Gefreite Bradley Manning an seinem Schuldbekenntnis fest. Staatsanwalt will ihm „Hilfe für den Feind“ anhängen

„Er war 22 und naiv. Aber voll guter Absichten“

MANNINGS VERTEIDIGER

AUS FORT MEADE DOROTHEA HAHN

Zwei gegensätzliche Beschreibungen von Bradley Manning prallen im winzigen Gerichtssaal der Kaserne Fort Meade in Maryland aufeinander: Für Staatsanwalt Joe Morrow ist der Gefreite „arrogant“, „giert nach Berühmtheit“ und hat so viele geheime Informationen „geerntet“, wie er nur konnte: In der Absicht, sie an Wikileaks weiterzugeben. Und in dem Wissen, damit dem „Feind“ zu helfen.

Für Verteidiger David Coombs hingegen ist der Gefreite im Irakkrieg auf eine Brutalität gestoßen, die sein Gewissen nicht ertragen konnte. Mit der Veröffentlichung der Geheimdokumente über Kriegsverbrechen, Folter, Guantánamo und US-Diplomatie wollte er eine öffentliche Debatte auslösen und „die Welt verbessern“. Verteidiger Coombs: „Er war 22 und naiv. Aber voll guter Absichten.“

Zum Prozessauftakt gegen den größten Whistleblower der US-Geschichte beschreibt der Staatsanwalt am Montag den Angeklagten wie einen Getriebenen, der immer mehr Daten „ernten“ will. Der Jurist liefert eine Chronologie, die zeitlich mit Kampagnen von Wikileaks zusammentrifft. Er erwähnt, dass die enthüllten Dokumente einen „hohen Marktwert“ haben, als wäre Manning zur eigenen Bereicherung zum Whistleblower geworden. Und er streut immer wieder den Namen von Wikileaks-Gründer Julian Assange ein. Als ginge es bei Mannings Prozess darum, die Anklage für den nächsten Prozess – dann gegen den Flüchtling in der ecuadorianischen Botschaft in London – vorzubereiten.

Verteidiger Coombs hingegen beschreibt einen idealistischen jungen Gefreiten, der als Religion auf seiner militärischen Erkennungsmarke „Humanist“ angegeben hat. Und der zu dem Zeitpunkt seiner Entsendung in den Irakkrieg tief in die Suche nach seiner eigenen Geschlechteridentität steckt. Mannings erster und einziger Weihnachtsabend 2009 im Irakkrieg gerät bei dem Verteidiger zu einem Offenbarungserlebnis für den späteren Whistleblower. Der erlebt in der Kaserne bei Bagdad, wie US-Soldaten, deren Konvoi gerade eine Minenexplosion schadlos überstanden hat, laut feiern. Niemanden von ihnen stört es, dass stattdessen der Wagen einer irakischen Familie getroffen wurde, die nun einen Toten und vier Verletzte hat.

Im Gerichtssaal ist nur Platz für 16 Zuschauer. Die anderen müssen der Verhandlung in einem Übertragungsraum folgen. Fast alle kommen aus der Solidaritätsbewegung, die Manning seit dessen Verhaftung im Mai 2010 unterstützt und seine Verteidigung finanziert.

In einer Verhandlungspause sagt Cornel West, prominenter Professor für Theologie und Afroamerikanische Studien aus Princeton, dass er seinen „mutigen Bruder“ unterstützt. Medea Benjamin von der Antikriegsgruppe Code Pink spricht von einem „Schauprozess“, mit dem potenzielle Whistleblower eingeschüchtert werden sollen. Der Anwalt Michael Ratner widerspricht der Behauptung der Anklage, Manning habe mit der Veröffentlichung das Leben von US-Bediensten gefährdet. Und die frühere Soldatin Ann Wright, die 2003 aus Protest gegen den Irakkrieg den Staatsdienst verließ, stellt fest: „Die Kriminellen gehen straffrei aus. Die Whistleblower kommen ins Gefängnis.“

Manche Zuschauer sitzen mit umgedrehtem schwarzen T-Shirt, auf dem im Nacken das Etikett zu sehen ist, im Gerichtssaal. Das Wurt „Truth“ – Wahrheit –, das auf die Außenseite des Shirts gedruckt ist, hat den Soldaten am Kaserneneingang nicht gefallen. Die Zuschauer mussten das Shirt ausziehen oder umdrehen.

Für Manning wird sich bis August entscheiden, ob er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt. Am ersten Tag seines Militärprozesses sagt er nur wenige Worte: Er bestätigt, dass er auf ein Geschworenengericht verzichtet. Und dass er an seinen zuvor gemachten Aussagen festhält.

Ende Februar gab Manning zu, dass er Hunderttausende Daten weitergegeben hat. Das Schuldbekenntnis könnte die Arbeit des Gerichts stark verkürzen und würde reichen, um Manning zu bis zu 20 Jahren Haft zu verurteilen. Doch der Staatsanwaltschaft reicht das nicht. Sie besteht darauf, an dem Anklagepunkt „Hilfe für den Feind“ festzuhalten. Und damit an der Möglichkeit von „lebenslänglich“ für Manning.