Zurück zur Vielschichtigkeit

Eine emotionale Achterbahn durchläuft der antike Gesangsstar bei der Rettung seiner Frau. Gregor Zöllig gibt Glucks „Orpheus und Eurydike“ in der Bielefelder Oetker-Halle ihren Tiefgang zurück

AUS BIELEFELD HEIKO OSTENDORF

Die Tanzoper ist nicht neu, aber selten. Immer wieder treibt sie sich, kaum über Expertenkreise hinaus bemerkt, in der Theaterlandschaft herum – und bleibt stets Einzelgänger. Woran liegt das? Tanz und Musik, klar das gehört zusammen. Doch stehen sich gesungen vorgetragene Dramatik und abstrakter Bewegungsausdruck nicht im Weg? Wenn jetzt ein Stadttheater wagt, die Rezeptionsgewohnheiten seines Publikums mit dieser Vermengung der Sparten zu traktieren, ist Hellhörigkeit angesagt, denn ein Flop könnte sich da schnell zum lokalen Kulturskandal aufbauschen.

Aber das Theater Bielefeld traut seinem neuen Tanztheaterleiter Gregor Zöllig zu, den Theatergängern das Oper-Tanz-Amalgam erfolgreich zu offerieren. Dazu wählt der Choreograf Christoph Willibald Glucks „Orpheus und Eurydike“, die Geschichte des Gesangswunders, der seine verstorbene Geliebte nach vielem Flehen aus dem Tod zurückholen darf, wenn er sie auf dem Weg an die Oberwelt nicht anschaut – so die Bedingung der Götter.

Für die Produktion steht Zöllig der ganze Apparat zur Verfügung: die gut aufgelegten örtlichen Philharmoniker unter der Leitung von Carolina Nordmeyer, ein beeindruckender Chor und drei hervorragende Sängerinnen. Dass Zöllig aber nicht einfach das Bühnengeschehen mit Hilfe seines zehnköpfigen Tanzensembles reflektieren will, beweist schon der Beginn. Gluck stellt ganz ohne Umschweife den Tod Eurydikes an den Anfang des Geschehens. Der Choreograf geht einen Schritt zurück. Zwei der Tänzer, Tiago Manquinho und Claudia Braubach, sind in ihrer Ehe festgefahren. Streit und Auseinandersetzung dominieren ihren Alltag. Das ist nicht die große Liebe, die zu rühmlichen Taten anstiftet.

Damit wird der Tod der Frau zum entscheidenden Bruch, der alles verändert. In fünffacher Ausfertigung steht Orpheus nun vor der aufgebahrten Eurydike. Während sich die Altistin Kaja Plessing um die traurigen Noten kümmert, werfen sich ihre vier tanzenden Alteregos in die körperliche Niedergeschlagenheit. Vergessen ist aller Streit. Die Pirouetten bleiben unvollendet, enden am Boden, als rinne die Lebenskraft auch aus Orpheus.

Wie trauernde Muslima, von TV-Kameras aussagekräftig eingefangen, wenn wieder einmal israelische Raketen für Kollateralschäden gesorgt haben, werfen die Tänzer kniend ihre Brust gen Himmel. In diesem Moment ist zu spüren, was Zöllig in seinen Choreografien auszeichnet. Oft hat er es verstanden, aktuelle politische Prozesse in nonverbales Bühnengeschehen zu verwandeln. So thematisierte er bei seiner letzten Produktion als Leiter des Osnabrücker Tanztheaters eindrucksvoll und kollagenhaft nüchtern die Globalisierung. Auch an der neuen Wirkungsstätte stellte Zöllig die Gesellschaft in den Mittelpunkt von „Crash“ und untersuchte, wie im Alltagstrott gefangene Menschen einer Katastrophe zurück in die Welt finden. Diesmal sind ihm die Emotionen wichtig, die verschiedenen Formen und Möglichkeiten von Trauer, Ehrgeiz und Freude. Er lässt seine Tänzer nicht im langweiligen Gleichklang agieren, sondern hat für alle eigene Parts entwickelt, die zwar kurz in der Gemeinsamkeit münden, dann jedoch schnell wieder ihre Individualität finden. Vielschichtigkeit statt Multiplikation.

Zöllig hebt die vom Komponisten auf ein Happy-End geprügelte Sage auf ein psychologisches Niveau, jenseits simplen Genusses. Dafür findet er immer wieder gewaltige Bilder, wenn zum Beispiel Amor den Tod domestiziert, oder wenn der Ehestreit von Beginn in Eurydikes furienhaftes Unverständnis dafür, das Orpheus sie nicht anschauen will, seine Fortsetzung findet. Dazu kontrastieren einfache weiße Tische, die mal Tafeln, mal Folterbank darstellen, die barock gesteppten Bühnenwände. Musikdrama und Tanz ergänzen sich in der Bielefelder Produktion letztlich so gut, weil Glucks Oper simpel gestrickt und leichtgängig ist. Zöllig gibt der Sage wieder, was die Oper ihr genommen hat: Komplexität.

14. Februar, 19:30 UhrInfos: 0521-515454