Kritik der Erinnerung

POLITIK UND PSYCHOANALYSE Der Soziologe Helmut Dahmer referierte im Mehringhof

Am Sonntagabend war Helmut Dahmer zu Gast im Mehringhof. Dahmer, Soziologie und lange Zeit Herausgeber der psychoanalytischen Monatszeitschrift Psyche, lotet seit vielen Jahren die gesellschaftskritische Dimension der Psychoanalyse aus.

Im Gespräch mit Martin Kronauer, in den Siebzigern Student Dahmers, stellte er nun seine aktuelle Aufsatzsammlung „Divergenzen – Holocaust, Psychoanalyse, Utopia“ vor. In dessen dreiteiliger Struktur spiegelt sich Dahmers Prägung durch marxistische, psychoanalytische und sozialwissenschaftliche Theorien wieder. Dass die verschiedenen Teile in einem Band erschienen, sei aus finanziellen Gründen entschieden worden.

Dahmers Referat des ersten Buchteils beinhaltete eine kritische Retrospektive auf die bundesdeutschen Verhältnisse nach 1945, geprägt von Gewalt und Gegengewalt, Rassismus und bis heute wiederkehrenden unsäglichen Debatten, in denen die Verantwortung für den Holocaust zurückgewiesen wird. Der zweite und interessantere Teil handelt von Aufstieg und Niedergang der Psychoanalyse, geprägt von einem Prozess der „Verkennung und Reduktion“. Die von Freud entwickelte Analyse, die das Leiden seiner Patienten – als Simulanten verschrien oder mit physikalischen Therapien gequält – als soziales Leiden „entzauberte“, sei zwar heute zu einer „weichen Psychotechnik“ verkommen, beinhalte im Grunde aber die Kritik der gegenwärtigen Kultur. Die Entlarvung der „Pseudo-Natur“ durch die Möglichkeit der Entzifferung des schicksalhaft erscheinen Zustands von Gesellschaft oder Individuum als menschengemacht, schaffe die Nähe zu Marx’ Theorien. Auch Freud habe den Ausweg über die Rekonstruktion einer Konfliktgeschichte gesucht.

Umso unverständlicher ist für Dahmer das bis in die Achtziger anhaltende Schweigen der Psychoanalytiker – selbst Experten für Amnesie und Anamnese – zu ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus. Während vor allem jüdische Analytiker ins Exil gezwungen wurden, harrten andere aus oder biederten sich gar den Machthabern an.

Zuletzt geht es um die „entgleiste“ russische Revolution und eine zeitgenössische Kapitalismuskritik. Dahmers Standpunkt: „Hitler und Stalin haben die Arbeiterbewegung kaputtgemacht.“ Die „fatale Verwandtschaft“ der Systeme, die ihren Weg durch Massenmord ebneten, zeige sich im unbedingten Willen zur physischen Vernichtung des revolutionären Subjekts. Dass diese Aussage mehr als problematisch ist, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer Nähe zum Nationalsozialismus. Im Hinblick auf die Erinnerungsstörungen der Psychoanalyse bliebe die Frage nach jenen zu stellen, die bei Dahmer wirken. Kronauers Frage, was die Arbeiterbewegung selbst zu ihrer Abschaffung beigetragen habe, musste so unbeantwortet bleiben.

SONJA VOGEL

■ Helmut Dahmer: „Divergenzen: Holocaust, Psychoanalyse, Utopia“. 49,90 €