„Ich wollte alles über Irena erfahren!“

IRENA SENDLER Wie zwei Berliner Schülerinnen die Frau für sich entdecken, die tausende jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete

■ Am Montag wäre Irena Sendler 100 Jahre alt geworden. Die 2008 verstorbene Krankenschwester rettete tausende Kinder aus dem Warschauer Ghetto. Sie organisierte die Kindersektion des Rats für die Unterstützung der Juden (Zegota), der 1942 gegründet wurde, um Juden vor den deutschen Besatzern zu retten. Als Krankenschwester für Epidemiekontrolle verschaffte sich Sendler Zugang zum Warschauer Ghetto und schmuggelte zusammen mit Helfern 2.500 jüdische Kinder aus dem Ghetto, um sie in polnischen Familien, Klöstern und Waisenhäusern unterzubringen. Über Kontakte erhielten die Kinder falsche Papiere. Die echten Namen der Kinder hielt sie auf einer Überlebensliste fest, die sie in eine Glasflasche steckte und vergrub.

VON AGNES STEINBAUER

„Wenn mir jemand etwas von Helden erzählt, die ganz tolle Taten vollbringen, dann glaube ich das meistens nicht“, sagt Natalia. Die dunklen Augen der 17-Jährigen blitzen energisch in die Runde. Den Titel „Held“ muss man sich bei ihr schon verdienen, das macht die Schülerin der Robert-Jungk-Oberschule in Berlin gleich klar, aber für Irena Sendler macht sie eine Ausnahme. Seit sich Natalia mit dem Leben der Polin beschäftigt, die vor über sechzig Jahren 2.500 jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete, weiß sie: Es gibt wahre „Superstars“ der Geschichte, und es lohnt sich, über sie nachzudenken.

Damit angefangen haben Natalia und zwei Mitschülerinnen, als im Sommer 2007 Anna Mieszkowska nach Berlin kam. An der deutsch-polnischen Robert-Jungk-Europaschule stellte die Journalistin und Schriftstellerin ihr Buch über „die Mutter der Holocaust-Kinder“ vor. Nach dieser Lesung war klar, dass sie mehr wissen wollten. Sie beschlossen auf Spurensuche zu gehen – in einem Schulprojekt, das Natalia und Karolina, die beide selbst aus Polen stammen, bis heute weitermachen.

Irena im Unterricht

Wer war diese Frau, die sich in höchste Lebensgefahr begab, um das Leben anderer zu retten? Wie hat sie das geschafft, und warum kennt sie heute kaum jemand? „Ich war so begeistert, dass sie für diese Kinder ihr Leben riskiert hat, ich wollte einfach alles über Irena Sendler wissen“, erzählt Natalia, und die 18-jährige Karolina fügt hinzu: „Ich finde, was sie getan hat, davon müssen ganz viele Menschen erfahren, vor allem junge Leute.“

Viel Zeit und Energie haben die beiden schon in dieses Projekt gesteckt: Recherchen im Internet, Besuche im jüdischen Museum, Briefe und Interviews mit Anna Mieszkowska, der Biografin und engsten Vertrauten Irena Sendlers, Referate in vielen Klassen ihrer Schule, öffentliche Auftritte – etwa im Berliner Abgeordnetenhaus –, und das alles unter erschwerten sprachlichen Bedingungen. Als das Projekt begann, waren beide neu in Berlin und hatten gerade erst angefangen Deutsch zu lernen.

Zum Einstieg stand die gründliche Lektüre der Lebensgeschichte an: Irena Sendler, geboren 1910 in Warschau, war Tochter eines sozial sehr engagierten Arztes. In der Stadt Otwock behandelte er häufig die Ärmsten der Armen ohne Bezahlung – darunter viele Juden. Er starb früh, weil er sich bei typhuskranken Patienten infiziert hatte, um die sich andere Ärzte nicht mehr kümmern mochten.

Dass man – egal was kommt – „dem Ertrinkenden die Hand reicht“ und Menschen nicht nach Rasse, Nationalität oder Religion beurteilt, sondern nach ihrem Charakter, diese beiden Maximen waren für Irena Sendler ausschlaggebend. Nur so konnte sie später als Sozialarbeiterin im Warschauer Ghetto das tun, was sie tat: die Befehle der deutschen Besatzer unterlaufen. Als die Nazis den Juden alle Bürgerrechte entzogen, sorgte die damals Dreißigjährige dafür, dass bedürftige Menschen im „jüdischen Wohnbezirk“ mit gefälschten Papieren Sozialhilfe erhielten, obwohl jede Hilfe für Juden unter Todesstrafe stand.

Als 1940 das Warschauer Ghetto abgeriegelt wurde, verschaffte sich Irena Sendler – als „Krankenschwester zur Seuchenbekämpfung“ getarnt – weiter Zugang, um helfen zu können. Täglich erlebte sie, wie die Menschen im Ghetto an Hunger und Krankheiten erbärmlich zugrunde gingen – darunter viele Minderjährige. „Die Straßen … waren voll von bettelnden Kindern“, schreibt sie in ihren Erinnerungen, „wir sahen sie beim Betreten des Ghettos, und wenn wir es nach einigen Stunden verließen, waren es häufig nur noch kleine, mit Zeitungen bedeckte Leichen.“ Als 1942 die Deportationen begannen, beschloss Sendler, so viele Kinder wie möglich zu retten. Im illegalen Judenhilferat Żegota organisierte sie ein Netzwerk von Helfern, die bereit waren, sie aus dem Ghetto zu schmuggeln.

Heute hängen verblichene Fotos im zweiten Stock der Robert-Jungk-Oberschule. Hier ist der polnische Zweig der Europaschule untergebracht – mit Klassen, in denen Polnisch nicht Fremdsprache, sondern Muttersprache ist. Aus dem Glaskasten der Dauerausstellung blickt ernst eine junge Frau – das Haar akkurat gescheitelt, den dunklen Zopf hochgesteckt. Melancholisch ihr Blick – fast ein wenig resigniert. Merkwürdig, denn genau das war Irena Sendler nicht.

„Sie muss ziemlich stark gewesen sein“ – mit dieser Vorstellung war Natalia im Februar vor zwei Jahren mit der Projektgruppe nach Warschau gefahren, in das Altenheim, in dem die „Mutter der Holocaust-Kinder“ bis zu ihrem Tod lebte. Die damals 15-Jährige wollte unbedingt ihre „Heldin“ persönlich kennenlernen und traf eine warmherzige, geistig hellwache 98-jährige Frau im Rollstuhl. „Als wir sie dann umarmt haben, war sie so klein und zerbrechlich“, dass Natalia sich wunderte: „Sie hat doch so viele Kinder gerettet, da hatte ich eigentlich gedacht, sie müsste größer und stärker sein.“

Vor fast 70 Jahren war sie das wohl auch. Da mussten Irena Sendler und ihre Verbündeten in jeder Hinsicht stark und erfindungsreich sein. In Kisten, Koffern oder Sanitätsfahrzeugen versteckt, wurden die Kinder aus dem Ghetto geschmuggelt. Die Kleinsten bekamen Schlafmittel oder wurden durch ein Gerichtsgebäude geführt, das einen Ausgang auf die „arischen Seite“ hatte. Ein kleiner Junge schlüpfte mit den Füßen in die Stiefel seines Retters und gelangte – unter dem Mantel versteckt – aus dem Ghetto. Das jüngste Kind war sechs Monate alt. Die Geschichte der Elzbieta Fincowska inspirierte Karolina besonders, sich mit der Thematik zu beschäftigen: „Das hat mich tief berührt, sodass ich mithelfen wollte, das weiterzuerzählen.“ Versteckt in einem Sanitätsfahrzeug, wurde der Säugling in einer Holzkiste aus dem Ghetto transportiert. Der einzige Hinweis auf die Herkunft des kleinen Mädchens, das heute Vorsitzende der Vereinigung der Holocaust-Kinder in Polen ist, war ein Silberlöffel mit eingraviertem Namen und Geburtsdatum.

„Gut, dass Sie das mit den Schülern machen, denn die Welt hat nichts gelernt“

IRENA SENDLER

Über all das schwieg Irena Sendler jahrzehntelang. „Macht keine Heldin aus mir, das würde mich zu sehr aufregen“, schrieb sie an amerikanische Schülerinnen aus Kansas, die 1999 auf ihren Namen gestoßen waren und ihre Geschichte in einem Theaterstück erzählten. „Leben im Glas“ – der Titel steht für die Überlebensliste Irena Sendlers, die die Namen der Geretteten in einer Glasflasche unter einem Apfelbaum in einem Warschauer Garten begrub. „Sendlers Liste“ mit der wahren Identität ihrer Schützlinge überdauerte dort unentdeckt den Krieg. Alle Kinder überlebten unter falschem Namen in Pflegefamilien, Waisenhäusern oder kirchlichen Einrichtungen. Irena Sendler, die 1943 von der Gestapo verhaftet wurde, verriet auch unter schwerster Folter im berüchtigten Pawiak-Gefängnis kein einziges Kind. Sie wurde zum Tode verurteilt. Ein bestochener SS-Mann ließ sie jedoch auf dem Weg zur Hinrichtung frei. „Leben im Glas“ brachte einen Stein ins Rollen. Die Medien wurden auf Irena Sendler aufmerksam. Trotzdem ist sie außerhalb Polens auch heute nahezu unbekannt. Dort kam sie erst 2003 mit der höchsten staatlichen Auszeichnung, dem „Weißen Adler für Tapferkeit und großen Mut“, zu späten Ehren. 1965 hatte sie die israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem „als Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet.

An den Spätfolgen der Gestapo-Folter litt Irena Sendler ein Leben lang. Die Nazis hatten ihr Beine und Füße gebrochen. „Trotzdem empfing sie uns fröhlich und optimistisch, und eine große Stärke ging immer noch von ihr aus“, erzählt Polnischlehrerin Genowefa Kmita, die in Warschau dabei war. „Gut, dass Sie das mit den Schülern machen, sagte sie uns, denn die Welt hat nichts gelernt.“ Genowefa Kmita begleitete das „Irena-Sendler-Projekt“ von Anfang an, half den Schülerinnen bei Recherchen und Realisierung und sorgt bis heute dafür, dass es immer wieder ein Thema im Unterricht ist. Letztes Jahr war Irena Sendler sogar Gegenstand der „Präsentationsprüfung im mittleren Schulabschluss“. Aber: „Nur gute Note und dann tschüss! So haben wir das nicht gesehen“, erklärt Natalia. Das Thema gehe weiter und sei eine „Herzensangelegenheit“ der Schule, betont auch Rektorin Ruth Garstka. „Wenn wir nicht schon einen Namen hätten, wir würden uns Irena-Sendler-Schule nennen.“

„Sie hat mich verändert“

Zeitzeugen seien erlebte Geschichte und bewirkten bei den Schülern mehr als alle Schulbücher, glaubt die Pädagogin und Schulleiterin Garstka. Deshalb wurde auch Piotr Zettinger in die Schule eingeladen – eines von Irena Sendlers geretteten Kindern und heute 72 Jahre alt. Als Vierjähriger entkam er mit seiner Cousine über Abwasserkanäle aus dem Warschauer Ghetto. Sie wurden von „Schwester Jolanta“, so Sendlers Deckname, empfangen und erst einmal gründlich abgeschrubbt: „Wir müssen fürchterlich gestunken haben“, erinnert sich Zettinger schmunzelnd. Denn „Frau Irena“ habe mitten in der Nacht bei einer Nachbarin um Seife gebeten und behauptet, sie müsse jetzt die große Wäsche machen.

Natalia und Karolina finden solche Veranstaltungen besonders spannend und hoffen, dass auch jüngere Schüler in ihr Projekt einsteigen. Katarzyna aus der neunten Klasse haben sie schon „angesteckt“. Sie erzählte im Ethikunterricht über die Geschichte Irena Sendlers. Denn: „Sie hat mich verändert. Durch sie habe ich verstanden, dass Mut viel bewirken kann.“