Des Guten zu viel

Prozess vor dem Amtsgericht: Um ihre Kinder vor schlechten Einflüssen zu schützen, weigert ein Elternpaar sich, sie zur Schule zu schicken

„Unsere Kinder wollen sich auch gar nicht selbst verwirklichen“

von ELKE SPANNER

Es gibt ein kleines Reihenhaus in Othmarschen, in dem erleben sechs Kinder die heile Welt. Es gibt dort keinen Fernseher, keine Bücher mit bösen Hexen, keine Besucher mit „schrecklichen Spielen“ wie Gameboys im Gepäck und nicht einmal offen ausgetragene Streits. „So etwas wie eine Scheidung“, sagt der Vater, André R., „würden wir unseren Kindern nie zumuten.“ Geht die Familie aus dem Haus, tut sie das geschlossen, nur einen Nachmittag pro Woche ist der Vater allein weg, da muss er Geld verdienen als Privatlehrer für Klavier und Mathematik.

Gestern ist die ganze Familie zum Altonaer Amtsgericht gekommen. Fünf Mädchen, alle mit langen geflochtenen Zöpfen und bunten Blumenröcken, der einzige Sohn mit offenem Haar und Cordhose. Natürlich mussten alle Kinder mitkommen, wo sonst sollten sie in Abwesenheit der Eltern bleiben, denn zur Schule und in den Kindergarten gehen sie nicht. Das lehnen André und Frauke R. ab. Bis zum Europäischen Menschenrechtshof klagen sie gegen die Schulpflicht, und jetzt sitzen sie deswegen in Altona auf der Anklagebank. Verstoß gegen das Schulgesetz wirft der Staatsanwalt ihnen vor.

Frauke und André R. sagen, von einer Straftat könne keine Rede sein. Das Schulgesetz habe den Anspruch, Kinder vor Schaden zu schützen, und das sei auch ihre Intention: vor dem Schaden nämlich, „den sie hätten, wenn sie zur Schule gehen würden“. Pisa-Studie, Gewalt auf dem Schulhof – Schlagworte werden in den Raum geworfen. Hinzu kämen die Gründe, welche die Bibel ihnen liefert, denn die ist für Familie R. Gesetz.

André R. sagt, dass er seine Kinder zu Hause unterrichtet. Physik zum Beispiel lernen sie im Alltag: Schwappt Hackfleischsoße über den Pfannenrand, erfahren sie, dass es ein Massenträgheitsgesetz gibt. Gehen sie Schlittenfahren, klärt der Vater seine Sprösslinge über die Mechanik der Reibung auf.

Der Richter äußert seine Befürchtung, dass die Kinder isoliert aufwachsen und der Restwelt später einmal nicht gewachsen sind. „Wie bringen Sie Ihren Kindern bei, dass es auch Gewalt gibt?“, fragt er. Die Antwort: „Wir muten ihnen zu, die Bibel von vorne bis hinten durchzulesen, dort geht es oft heftig zu.“ Der Richter fragt: „Haben sie Kontakt zu Gleichaltrigen?“ „In unserer Gemeinde“, erhält er zur Antwort. „Da sind ganz normale Menschen.“

Die beiden ältesten Töchter, heute 14 und 12 Jahre alt, sind ein paar Jahre zur Schule gegangen, auf eine „freie christliche Bekenntnisschule“. Aber auch die konnten die Eltern nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Diese Gewissensnot hat ein anderes deutsches Gericht einmal als Grund anerkannt: Das Amtsgericht im hessischen Alsfeld sprach Eltern frei, die ihre Kinder aus Glaubensgründen nicht zur Schule schicken wollten. Das Landgericht Gießen hob den Feispruch auf und verurteilte die Eltern zu einer Geldstrafe. Was aber kann Strafe hier bringen? Der Richter fragt sich, „ob wir das Ganze kriminalisieren müssen“. Auch der Staatsanwalt sagt in einer Pause: „Ob die Kinder am Ende dieses Verfahrens zur Schule gehen werden, ist eine ganz andere Frage.“

Die Eltern haben bereits angedeutet, dass auch eine Bestrafung sie nicht von ihrem Weg abbringen wird. So ist für die Kinder die Zukunft schon vorgezeichnet, Justiz hin oder her. Ob sie sich schon einmal Gedanken über den späteren beruflichen Werdegang gemacht haben, fragt das Gericht. „Natürlich“, antwortet Frauke R.: „Die Mädchen werden Hausfrau und Mutter. Die wollen sich gar nicht – wie soll ich sagen – selbst verwirklichen.“ Der Prozess wird fortgesetzt.