Kopfschuss und Kopf ab

DRAMA Das Konzerthaus Berlin widmet sich dem fast vergessenen Komponisten Ernst Krenek. Seine Oper „Orpheus und Eurydike“ entstand nach einem expressionistischen Drama von Oskar Kokoschka

Man möchte sie am liebsten zählen, all die Menschen, die auf dem dreistöckigen Gerüst, das man im Konzerthaus zur konzertanten Aufführung von Ernst Kreneks „Orpheus und Eurydike“ aufgebaut hat, beim Schlussapplaus übereinander stehen. Doch es sind zu viele, an die zweihundert müssen es sein. Welch eine extreme, eigentlich völlig wahnsinnige Kunstgattung das Musiktheater doch ist!

Dass man gerade an diesem Abend besonders geneigt ist, Oper mit Wahnsinn zu assoziieren, ist sicher kein Zufall. Denn heftig mit Obsessionen besetzt ist das zugrunde liegende Drama. „Orpheus und Eurydike“ bildet den Höhepunkt eines Ernst-Krenek-Monats im Konzerthaus. Die 1926 uraufgeführte Oper des 1991 verstorbenen österreichisch-amerikanischen Komponisten war lange Zeit vergessen.

Fiebriger Gestus

Sie sei wohl durch den überwältigenden Erfolg von Kreneks Jazz-Oper „Jonny spielt auf“ (1927) verdrängt worden, versucht sich Dramaturg Jens Schubbe an einer Erklärung. Zudem bediene „Orpheus und Eurydike“, basierend auf einer Vorlage Oskar Kokoschkas, einen fiebrig-expressionistischen Gestus, der bald als überholt betrachtet wurde.

Sehr wahrscheinlich sind auch die Leidenschaften, die in dem Drama verarbeitet werden, allzu eigen. Allein die Entstehungsgeschichte gäbe einen fulminanten Dramenstoff ab: Der Künstler und Schriftsteller Oskar Kokoschka hatte den Ersten Weltkrieg schwer verletzt überlebt. An der Front war er nicht ganz freiwillig gelandet, sondern hatte sich auf Drängen Alma Mahlers gemeldet, seiner Geliebten. Sie war seiner überdrüssig geworden und beendete so eine dreijährige, anstrengende Hassliebesbeziehung. Als Oskar von der Front zurückkehrte, war Alma schon mit Walter Gropius verheiratet.

Kokoschka ließ eine lebensgroße Alma-Puppe anfertigen, die ihn auch in die Öffentlichkeit begleitete. Bis sie ihm „die Leidenschaft gänzlich ausgetrieben“ hatte und er ihr mit großer Geste den Kopf abschlug. Bereits vorher hatte er „Orpheus und Eurydike“ geschrieben, das seine Beziehung zu Alma in dem antiken Stoff spiegelte. Die Dialoge, schrieb Kokoschka später, habe er imaginiert, während er mit Kopfschuss im Feldlazarett lag.

Als Ernst Krenek begann, sich mit dem Kokoschka-Drama zu beschäftigen, war er gerade einmal Anfang zwanzig. Kokoschkas Text kürzte er radikal herunter. Seine Musik gehorchte nur sich selbst, war weder dem herkömmlichen Harmoniesystem noch einem atonalen Prinzip (die Zwölftontechnik hatte noch nicht so weite Kreise gezogen) verpflichtet. Die freie Atonalität ermöglichte Krenek die größtmögliche Freiheit des Ausdrucks. Es war sein erklärtes Ziel, durch die „psychische Kraft“ der Musik zu verdeutlichen, was der teilweise nur schwer verständliche Text, den er später als „expressionistisches Blabla“ abfertigen sollte, nicht transportieren konnte. Da er kaum mit wiederkehrenden Elementen arbeitete, wird den Zuhörenden die Freiheit gegeben – und die Anstrengung auferlegt –, sich dem Höreindruck völlig unvoreingenommen zu überlassen.

Großes Staunen

Das geht im Konzerthaus ziemlich gut. Die etagenweise Aufstellung der Akteure trägt sehr zu der klanglichen Klarheit bei, die diesen Abend auszeichnet. Einmaliges Hören aber ist natürlich zu wenig, zumal wenn man außerdem anderes zu tun hat. Etwa darüber zu staunen, wie Lothar Zagrosek es schafft, alle Etagen des Bühnengerüsts im Blick zu behalten (mit Hilfe seines Kodirigenten Maxim Heller), oder darüber, wie souverän die SolistInnen (Daniel Kirch, Brigitte Pinter, Claudia Barainsky) ihre Partien singen, die sie erst Tage zuvor von erkrankten KollegInnen übernommen haben.

Mit Hilfe des Regisseurs Karsten Wiegand ist die Aufführung szenisch erweitert worden, etwa durch ein Livevideo, in dem sich ein Schauspieler mit Kopfverband an einer Alma-Puppe zu schaffen macht. So wird „Orpheus und Eurydike“ vor allem als Oskar-und-Alma-Abend präsentiert. Das ist verständlich, denn allzu großartig ist diese Geschichte, um sie sich als Rezeptionshilfe entgehen zu lassen.

Um Ernst Kreneks Musik in ihrem kompositorischen Reichtum wahrzunehmen, gibt es noch weitere Gelegenheiten. Am 18. Februar wird im Konzerthaus Kammermusik von Krenek und Zeitgenossen zu hören sein. Mit der Aufführung des Opern-Einakters „Dunkle Wasser“ (25. bis 28. Februar ) endet der Krenek-Monat. KATHARINA GRANZIN