Solidarität muss lernen statt lehren

PROTESTE IN DER TÜRKEI

Es kann nachhaltig gute Auswirkungen auch auf die hiesige Gesellschaft haben

Es ist überwältigend, wie viel Solidarität und Unterstützung die Protestierenden in der Türkei erleben, auch in Deutschland, auch in Berlin. Drei Kundgebungen gleichzeitig fanden hier allein am Donnerstagabend statt, ein Soli-Picknick auf dem Tempelhofer Feld und eine anschließende Demo vom Hermannplatz aus sollen die verschiedenen Gruppen am Sonntag wieder zusammenführen.

Das ist gut und es ist bewegend – und es kann nachhaltig gute Auswirkungen auch auf die hiesige Gesellschaft haben. Denn mit dieser Solidariätsbewegung kommen Menschen wieder ins Spiel, die sich in den vergangenen Jahren genervt und enttäuscht aus den gesellschaftlichen Debatten und Bewegungen in Deutschland ausgeklinkt hatten: junge, gut ausgebildete DeutschtürkInnen, genervt davon, wie viel Interesse den rassistischen Thesen eines Thilo Sarrazin gewidmet wird, enttäuscht davon, wie wenig Interesse der sich in den missglückten Ermittlungen zum NSU abbildende Rassismus in Deutschland erregt.

Nun sind sie wieder dabei, Seite an Seite mit deutschen UreinwohnerInnen, die plötzlich mit Respekt auf den politischen Mut und die besonnene Klugheit der Protestler blicken – dem Respekt, den Türkeistämmige oft vergeblich einfordern. „Bio“-Deutsche, die trotz jahrzehntelanger Einwanderung und vieler sich dadurch bietenden Gelegenheiten nie gelernt haben, auf Türkisch „Entschuldigung“ zu sagen, lernen nun als erstes Wort „Istifa“, Rücktritt. Fortgeschrittene skandieren mit ihren türkeistämmigen MitstreiterInnen schon souverän längere Parolen wie etwa „Fasizme karsi omuz omuza“ – Schulter an Schulter gegen Faschismus.

Gut so, weiter so! Aber Vorsicht: Richtig gut wird das nur, wenn es auch wirklich weitergeht. (Nicht nur) türkeistämmige PolitaktivistInnen in Deutschland können ein Lied davon singen, wie gern ihre deutschen UnterstützerInnen ihnen erklären, was in ihren jeweiligen Herkunftsländern so alles anders werden muss. Soll die jetzige Solidarität Bestand haben und Früchte tragen, wäre es an der Zeit, mal zu lernen statt zu lehren. Oder, wie ein türkeistämmiger Aktivist bei einer Gezi-Park-Solidemo am Kotti seufzt: „Schön, dass so viele Biodeutsche hier sind! Würden die doch auch mal alle zu den Antirassismusdemos kommen …“

ALKE WIERTH