Bravo-Boy im Rückraum

Noch vor ein paar Wochen hatte Michael Kraus selbst Bundestrainer Heiner Brand nicht auf der Rechnung. Gestern half der 22-Jährige auch beim 36:33-Sieg über Slowenien mit

AUS BASEL JOACHIM KLAEHN

Das Pech der anderen ist sein Glück. Während die Spielmacher der deutschen Nationalmannschaft im Vorfeld der Europameisterschaft gleich reihenweise ausfielen, nutzte Michael Kraus seine Chance. Vor den kontinentalen Titelkämpfen in der Schweiz hatte den 22-Jährigen von Frisch Auf Göppingen selbst Heiner Brand nur ganz am Rande auf der Rechnung, doch schon nach der 25:27-Niederlage im letzten Vorrundenspiel gegen Frankreich brummte der Bundestrainer: „Es war vielleicht ein Fehler, dass ich Michael Kraus rausgenommen habe.“ Es war ein indirektes Lob, eine Art kleiner Ritterschlag für einen, der noch ein paar Wochen zuvor allenfalls als Ergänzungskraft in Betracht zu kommen schien. Auch dass es beim 36:22 im ersten Hauptrundenspiel gegen die Ukraine am Dienstag etwas zäher anlief bei Kraus, kann am positiven Gesamteindruck nicht rütteln. Zumal: Drei Tore steuerte er auch gegen die Ukraine bei.

Kraus selbst genießt jeden einzelnen Moment seiner noch so jungen Nationalmannschaftskarriere. „Ich bin“, sagt er in der Hotel-Lobby des Basler Swissotel Le Plaza, „über jede Minute dankbar, die ich spielen darf.“ Gegen Spanien durfte „Mimi“ Kraus 14:43 Minuten ran, gegen die Slowakei schon 34:27, auch gegen Frankreich und die Ukraine knackte er die Halbe-Stunden-Marke. Der 22-Jährige nimmt diese Fakten zur Kenntnis, ohne irgendeinen Anspruch daraus abzuleiten. Er sagt nur: „Jede Minute ist goldwert.“

Michael Kraus, Auszubildender zum Bankkaufmann, ist wissbegierig, zielstrebig und, vor allem, herzerfrischend offen. Und er hat damit – und natürlich mit seinem handballerischen Können – sich die Anerkennung der Kollegen erarbeitet. „Wie sich der Mimi hier entwickelt“, sagt zum Beispiel Rechtsaußen Florian Kehrmann, „ist wirklich bemerkenswert. Er macht richtig Dampf bei uns.“

Auch abseits des Handball-Terrains führt Kraus ein schwungvolles Leben – oder besser: Er führte es – und zwar von Kindesbeinen an. Der gebürtige Göppinger frönte früh dem Leistungsturnen, am Barren wurde er sogar württembergischer Meister. Dem kleinen Ball jagte er parallel dazu nach, später kam auch noch die Leichtathletik „eher als Ergänzung“ hinzu. Das alles kommt ihm nun zu gute: Kraus ist ein Modellathlet, mit 1,87 Meter Körpergröße und 90 Kilogramm Gewicht bestimmt kein Riese, aber er tanzt dafür mit seiner Wendigkeit, Spritzigkeit und Schnellkraft die gegnerischen Abwehr-Hünen aus. Aus seinem sportlichen Körper hätte er auch anderweitig Kapital schlagen können, phasenweise tat er es übrigens. Seine Mutter Brigitte hat gemodelt, seine Schwester Alena (für Unterwäsche) ebenfalls, Letztere trieb ihn dazu an, es bei einem Wettbewerb der Jugendzeitschrift Bravo gemeinsam zu versuchen. Alena landete unter den Top ten, „Mimi“ gewann – und wurde „Bravo Boy 2000“. Fanpost und Liebesbriefe füllten daraufhin Säcke.

Michael Kraus plaudert ohne Hemmungen aus seiner Vergangenheit, und er erzählt auch, dass er kurzzeitig über eine Model-Karriere nachgedacht, diesen Gedanken jedoch recht flott wieder verworfen habe. „Den ganzen Tag lachen und laufen auf dem Steg, das ist anstrengend wie die Sau, einfach der Hammer“, sagt er heute und grinst. Da entschied er sich doch lieber für Handball, träumte von der Bundesliga und dem Nationalteam. Nun haben sich beide Träume erfüllt.

Dass Daniel Stephan, Markus Baur und Oleg Velyky, die angestammten Rückraumspieler im DHB-Team, bei der EM nicht dabei sein können, bedauert Kraus. „Schade für sie und uns. Ich hätte von allen dreien so viel lernen können“, findet er. „Ich versuche halt, überall Informationen herzukriegen.“ Zum Beispiel von seinem Zimmergenossen Andrej Klimovets, dem Mann vom Kreis. Oder von seinem Heimtrainer Velimir Petkovic, mit dem er sich in täglichen Telefonaten austauscht. „Petko“ ist sein Förderer, Ziehvater und Freund, seinetwegen hat „Mimi“ in Göppingen bis 2008 unterschrieben.

Michael Kraus spricht von „Riesenzielen“, die es anzuvisieren gelte. Aktuell ist das die EM-Hauptrunde in Basel, in der das DHB-Team gestern die Slowakei mit 36:33 besiegte und schon heute wieder auf Polen trifft. 2007 ist es die Weltmeisterschaft in Deutschland. Und noch ein Jahr später schließlich die Olympischen Spiele in Peking. Dorthin will Michael Kraus gemeinsam mit seinem älteren Bruder reisen. Christian Kraus gilt als deutsche Hoffnung im Säbelfechten.