Schneller und effektiver urteilen

KONFERENZ Mitgliedstaaten des Europarates beraten seit Donnerstag über eine Reform zur Entlastung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte

■ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wurde 1959 gegründet zur Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950. Mitglied sind die 47 Staaten des Europarates. Sie stellen jeweils einen Richter für den EGMR. Die 800 Millionen EinwohnerInnen der 47 Vertragsstaaten können seit 1998 beim EGMR Individualbeschwerde erheben gegen Verletzungen ihrer Rechte aus der Konvention durch die Regierung und Behörden ihres Landes. Zuvor muss der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden. In den letzten elf Jahren gingen über 300.000 Beschwerden ein. (azu)

GENF taz | Im Juli 2006 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) der Klage eines Kleindealers aus Wuppertal statt und verurteilte Deutschland wegen des damals noch in einigen Bundesländern praktizierten Einsatzes von Brechmitteln gegen Drogenhändler. Der Brechmitteleinsatz, den das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe 1999 noch gebilligt hatte, sei eine „inhumane und erniedrigende Behandlung“ und ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, beschied der EGMR in letzter, abschließender Instanz.

EGMR-Präsident Jean-Paul Costa schlägt jetzt, vor, dass derartige Urteile künftig nicht nur in dem jeweils verurteilten Land Rechtskraft erhalten, sondern automatisch auch in den anderen 46 Vertragsstaaten der Konvention. Damit könne die Zahl der Beschwerden beim EGMR reduziert werden.

Über diesen und andere Reformvorschläge zur Entlastung des EGMR beraten die 47 Mitgliedstaaten des Europarats auf Einladung des diesjährigen Vorsitzlandes Schweiz seit Donnerstag in Interlaken. Aus Deutschland nimmt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) teil. Erste Maßnahmen zur Beschleunigung und Effektivierung der Arbeit des EGMR hatte bereits Costas 2007 ausgeschiedener Vorgänger Luzius Wildhaber (Schweiz) ergriffen.

Während vom EMGR für unzulässig erklärte Beschwerden ursprünglich mit ausführlichen individuellen Begründungen an die Beschwerdesteller und ihre AnwältInnen zurückgewiesen wurden, geschieht das seit 2004 nur noch durch einen allgemein gehaltenen Formbrief. Seit 2006 werden rund 90 Prozent aller Beschwerden für unzulässig erklärt. Dies geschieht aus zwei Gründen: zum einen, weil sie offensichtlich unbegründet sind; zum anderen, weil sie gestützt sind auf Rechte, die in der Konvention gar nicht genannt sind, beziehungsweise auf Sachverhalte, die aus der Zeit stammen, bevor der beklagte Staat dem Gerichtshof beigetreten war. Doch trotz dieser Maßnahmen stieg die Zahl der beim EGMR anhängigen, unerledigten Fälle bis Ende vergangenen Jahres auf über 120.000.

Einen weiteren kleinen Reformfortschritt konnte Präsident Costa gestern in Interlaken verkünden: über die Ablehnung offensichtlich unbegründeter Beschwerden muss künftig nicht mehr eine der mit bis zu 17 RichterInnen besetzten Kammern des EMGR beraten, sondern sie kann jetzt auch durch einen Einzelrichter entschieden werden.

Über ein Protokoll mit diesen und einigen weitere Maßnahmen zur Straffung der Abläufe im Gerichtshof wurde bereits seit sechs Jahren diskutiert. Doch erst im vergangenen Januar gab Russland als letzter der 47 Mitgliedstaaten des Europarates seine Zustimmung.

Die Hauptverantwortung für eine Entlastung des Europäischen Gerichtshofes liegt allerdings nicht in Straßburg, sondern bei den Mitgliedstaaten. Zwei Drittel aller bisherigen Beschwerden an den EGMR kamen aus den Ländern mit den größten rechtsstaatlichen Defiziten und gravierendsten strukturellen Problemen im Justizwesen – und einem entsprechend geringen Vertrauen der BürgerInnen in ihre nationalen Rechtsorgane. Das sind Russland und die anderen 20 osteuropäischen Staaten, die nach dem Ende des Kalten Kriegs in den Europarat aufgenommen wurden.

Italien etwa ist das Land, in dem die Gerichtsverfahren am längsten dauern

Entsprechende Probleme gibt es allerdings auch in westlichen Ländern des Europarates. Italien etwa ist das Land, in dem die Gerichtsverfahren am längsten dauern. Und auch Deutschland und andere EU-Staaten setzen Urteile des EGMR manchmal unzureichend oder nur mit erheblicher Verzögerung um. Und ob der Vorschlag von Präsident Costas zur automatischen Übernahme von Urteilen akzeptiert wird, ist derzeit völlig offen.

ANDREAS ZUMACH