Minister und Bedienstete, Gegner und Speichellecker

REVOLTEN „Moloch Tropical“ von Raoul Peck (Berlinale Special) über die jüngste politische Vergangenheit Haitis

Der Film verweist auf Widersprüche und Wendungen der vergangenen 200 Jahre

Ein Präsident sollte Stolz und Würde ausstrahlen. Sein aufrechter Gang sollte seinem Ethos entsprechen. Dieser Regent Jean Dieu (Zinedine Soualem) kann nur noch humpeln und Haken schlagen. Am Morgen tritt er in die Scherben eines zerbrochenen Glases, weil seine Schlafmaske ihm die Sicht nimmt. Am Abend wird seiner politischen Blindheit wegen nicht nur seine Karriere, sondern das ganze Land in Trümmern liegen.

„Moloch Tropical“ von Raoul Peck beschreibt die Ereignisse eines Tages und des folgenden Morgens. Am Sitz des haitianischen Präsidenten Jean Dieu werden Vorbereitungen für die Feiern zur Unabhängigkeit des Landes getroffen. Wie in einem Brennglas tritt ein kleiner gesellschaftlicher Mikrokosmos zusammen: Minister, Berater, Bedienstete, Günstlinge, Speichellecker und Gegner bewegen sich durch die Gänge der auf einem Berggipfel gelegenen Zitadelle. Trotz der erhöhten Lage lässt sich von hier aus nichts erkennen, schon gar nicht die Stimmung im Land, die sich in immer gewalttätigeren Revolten entlädt.

Unverkennbar ist im Schicksal Dieus in zahlreichen Details der politische Aufstieg und Niedergang des Expräsidenten Jean-Bertrand Aristide erkennbar. Aber der Film verweist nicht bloß auf die jüngste politische Vergangenheit Haitis, sondern auf die Konfusionen, Widersprüche und Wendungen der vergangenen zweihundert Jahre. Gedreht wurde auf der Zitadelle Henri Christophe, die nach der Unabhängigkeit 1804 errichtet wurde, um die französischen Kolonialisten an der Rückkehr zu hindern. Pecks Film ist eine Art Remake von Alexander Sokurows „Moloch“ von 1999. Der beschrieb eine Reihe von Tagen auf der Wolfsschanze – Eva Braun tanzte nackt im Nebel, Hitler monologisierte über die Vorzüge des Vegetarismus, irgendwo da draußen tobte der Krieg. Peck zeichnet seinen Herrscher ebenfalls als selbstsüchtigen, größenwahnsinnigen Diktator, der zudem seinen Schwanz nicht unter Kontrolle halten kann. Aber dieser Diktator ist kein Monster – dafür ist er viel zu erbärmlich. „Ein Monster hätte Größe“, sagt sein größter politischer Gegner, der Journalist Gérald, nachdem Dieu ihn hat foltern lassen.

Wie in einem Shakespeare’schen Drama häufen sich nach und nach die Leichen in und um die Burg. Der Herrscher wird nackt und allein dastehen, während sein Hofstaat in wilder Panik die Koffer packt. Die Rechnung für das Debakel zahlt die Bevölkerung.

DIETMAR KAMMERER