Republikflucht ins Unglück

WUNDERKIND Auch der Sozialismus schützte nicht vor amourösen Fehlern: Es gibt viel zu lernen in dem aus dem Nachlass edierten Band, in dem Ronald M. Schernikau das Leben seiner Mutter befragt – „Irene Binz“

Der Hype ist schon wieder vorbei. Im letzten Jahr trat Matthias Frings mit seiner Biografie des Autors Schernikau eine kleine Welle los. Schernikau, zu früh an Aids gestorben, 1991 nämlich, wurde als „Der letzte Kommunist“, so der Titel, wiederentdeckt.

Schernikau war ein offen schwuler und kommunistischer Autor, der letzte, der vom Westen in den Osten wechselte, bevor die Mauer fiel, Sohn einer alleinerziehenden Krankenschwester, die der Liebe und nicht der Politik wegen vom Osten in den Westen flüchtete, Mitte der Sechzigerjahre. Schernikau, das ehemalige Wunderkind, das mit 16 oder 17 ähnlich wie jetzt Helene Hegemann ein heftig beachtetes Debüt vorlegte, nämlich die 1980 bei Rotbuch erschienene „Kleinstadtnovelle“. Ein Buch über das Outen in der westdeutschen Provinz. Schernikau, der ein Freund der „letzten Kommunistin“ und großen Autorin Gisela Elsner war, der in seiner berüchtigten Rede beim Schriftstellerverband der DDR im März 1990 von „Konterrevolution“ sprach. Im Zuge der Wiederentdeckung dieses so sensiblen wie mutigen Autors erschien im Herbst der Reader „Königin im Dreck“ im Verbrecher Verlag, jetzt legt Schernikaus Erstverlag Rotbuch „Irene Binz. Befragung“ nach.

Was man wissen muss: „Irene Binz. Befragung“ ist ein transkribiertes Gesprächsprotokoll. Es ist in der Form aus dem Nachlass neu veröffentlicht, fand in anderer Form aber bereits als Teil der Großmontage „legende“ Drucklegung. Schernikau hat bei der Transkription eine Literarisierung vorgenommen, die einerseits im Austausch von Namen bestand, andererseits in einer poetisierten Darstellung der direkten Rede. Woraus weder Dietmar Daths Vorwort noch die Verlagsreklame einen Hehl macht: Hier spricht Ronald M. Schernikaus Mutter persönlich. Ellen Schernikau. Und somit ist „Irene Binz. Befragung“ eine Vorstufe zu einer Autobiografie – man bekommt das Leben einer Krankenschwester erzählt, die sich in einen Briefmarkenhändler verliebt, ein uneheliches Kind bekommt und nach Jahren des Zweifels dem Vater des Kindes und einer Hoffnung auf Liebe und Familie in den Westen nachreist. Wobei von „reisen“ natürlich keine Rede sein kann: Die Mauer stand schon, die Reise erfolgte im Kofferraum, dabei verstand sich Schernikau/Binz als Kommunistin und war auch aktives Mitglied der SED.

Es ist also nicht irgendein Leben einer Autorenmutter, das hier erzählt wird, sondern ein außergewöhnliches. Ein Leben, das zwischen ungeheurer privater Naivität und sozialer wie politischer Intelligenz pendelte. Im alten Sinne ist „Irene Binz. Befragung“ ein sehr politischer Text: Der Westen entpuppt sich für die Sozialistin als erwartbare, trotzdem heftige Enttäuschung, der Osten wird keinesfalls verklärt, dafür in seinen Vorzügen nahegebracht und erklärt. Auch wenn die Mauer, die stalinistisch feige, defensive Politik der Nachkriegskommunisten verteidigt werden und das Wort Stasi so gut wie überhaupt nicht fällt: Das Buch lässt in ein Leben blicken, das von der Politik bestimmt wurde.

„Irene Binz. Befragung“ ist Literatur in einem alten, wiederzuentdeckenden Sinn: Literatur als Aufklärung über die Verhältnisse. Man lernt viel aus diesem Buch, auch dass Sozialismus nicht vor biografischen, amourösen Fehlern schützt. Der Hype kann also noch mal aufflammen. Tipp zum Schluss: Gleich anschließend „Seltsame Sterne starren zur Erde“ von Emine Sevgi Özdamar lesen. Auch das erweitert die Perspektive auf deutsch-deutsche Fragen, die mithin bis in die Gegenwart reichen. RENÉ HAMANN

Ronald Schernikau: „Irene Binz. Befragung“. Rotbuch Verlag, Berlin 2010, 224 Seiten, 16,95 Euro