Bulldozer gegen Besetzer

DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS Der türkische Ministerpräsident Erdogan verkündet „das Ende der Toleranz“ und lässt den besetzten Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls stürmen

Über Mittag sah es dann kurzzeitig noch einmal so aus, als würde die Polizei auch den Gezi-Park stürmen, doch nach einem Hagel von Gasgranaten trat erst einmal wieder Ruhe ein

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Die Luft brennt am Taksim-Platz. Gasschwaden lassen die BesetzerInnen im nahen Gezi-Park mühsam nach Luft ringen, die Augen tränen, die Lungen brennen. Immer wieder fliegen Gasgranaten vom Taksim-Platz aus in den Gezi-Park, ein Teil der BesetzerInnen hat seine Zelte zusammengeräumt und ist in den hinteren Park geflüchtet, möglichst weit weg vom Taksim-Platz.

Auf den Taksim-Platz selbst herrscht am Dienstagnachmittag Hochspannung. In den frühen Morgenstunden hatte die Polizei den Platz gestürmt – das Zentrum der seit fast zwei Wochen andauernden Proteste. Zwischen Phasen gespannter Ruhe greift die Polizei immer wieder neu an.

Noch ist der benachbarte Gezi-Park nicht geräumt, aber die Spannung steigt, wie lange die Polizei sich zurückhält. Denn während der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, am Vormittag verkündete, die Parkbesetzer seien vor einer Räumung vorläufig sicher, hörte sich Regierungschef Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede vor seiner Fraktion in Ankara ganz anders an.

„Unsere Toleranz ist am Ende“, rief er den applaudierenden AKP-Abgeordneten zu, „wir werden diese Episode jetzt beenden.“ Zum Gezi-Park, dessen geplante Abholzung den gesamten Protest vor zwei Wochen erst ausgelöst hatte, sagte Erdogan: „Der Park ist kein Campingplatz, sondern ist zum Spazierengehen da. Wer es mit dem friedlichen Protest ernst meint, muss jetzt nach Hause gehen“.

Um 6 Uhr kommt die Polizei mit Wasserwerfern

Mit der Stürmung des Taksim-Platzes im Auftrag des Regierungschefs hatte die Polizei schon am Morgen gezeigt, was mit dem Ende der Toleranz gemeint ist. Um 6 Uhr morgens, als die Parkbesetzer im Gezi-Park in ihren Zelten schliefen und auf dem Taksim-Platz selbst kaum noch Demonstranten waren, rückte die Polizei mit schwerem Räumgerät, Bulldozern, Wasserwerfern und Hundertschaften der berüchtigten Antiaufruhr-Polizei vom Bosporus aus gegen den Taksim-Platz vor. Bulldozer räumten die noch am Montagabend von den Besetzern neu aufgebauten Barrikaden zur Seite.

Begleitet wurde der Vormarsch der Polizei von einem massivem Einsatz von Gasbomben, die nicht nur den Taksim-Platz, sondern die gesamte Nachbarschaft, darunter auch das deutsche Konsulat, einnebelten. Auf dem Platz selbst traf die Polizei zu dieser frühen Morgenstunde auf wenig Widerstand. Vereinzelte Demonstranten versuchten sich ihnen in den Weg zu stellen, wurden aber mit Wasserwerfern weggefegt. Vereinzelt flogen Molotowcoktails, ein oder zwei gepanzerte Wasserwerfer fingen Feuer, wurden aber von anderen Wasserwerfern umgehend gelöscht.

Tränengaswolken wabern über dem Stadtviertel

Rund 3.000 BesetzerInnen, die durch den Polizeieinsatz aus dem Schlaf gerissen wurden, mussten vom Park aus zusehen, wie die Polizei auf den Platz vorrückte und dort abräumte. Noch Stunden danach waberten Tränengaswolken über dem gesamten Stadtbezirk rund um den Taksim-Platz.

Über Mittag sah es dann kurzzeitig noch einmal so aus, als würde die Polizei jetzt auch den Gezi-Park stürmen. Sie schoss Gasgranaten in den Park hinein und drang auf die Grünfläche vor. Doch dann zogen sich die mehreren hundert Polizisten wieder zurück. Am späten Nachmittag dann ein erneutes Vorrücken. Es schien, als wolle die Polizei die Demonstranten im Park einkesseln.

Der Polizeiangriff auf dem Taksim-Platz steht in scharfem Gegensatz zu der Ankündigung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arinc vom Montagabend. Im Anschluss an eine stundenlange Kabinettssitzung hatte er verkündet, Ministerpräsident Erdogan sei bereit, sich am Mittwoch mit 5, maximal 10 Vertretern der Protestbewegung zu treffen. Allerdings war von der Protestbewegung zu hören, die Regierung hätte selbst Leute vorgeschlagen. Ob dieses Gespräch noch zustande kommt und ob es irgendeine politische Wirkung entfalten kann, ist unklar. Eine Pressekonferenz der Bürgerinitiative „Gegen den Umbau des Taksim“ gestern Mittag ging im Tränengasnebel unter.

Bis zum Nachmittag hat die Polizei den Taksim-Platz gesäubert. Trotz anschwellendem Widerstand von Demonstranten hat die Polizei alle Stände, Plakate und Transparente, die den Taksim-Platz in den vergangenen zehn Tagen geschmückt haben, heruntergerissen oder beseitigt. Der Platz selbst blieb abgeriegelt. In den umliegenden Straßen wurden Protestgraffiti an Hauswänden übermalt.

Per Twitter, Facebook und Mund-zu-Mund-Propaganda wurde am Dienstagnachmittag zu einer Großdemonstration im Gezi-Park für den Abend aufgerufen – dann, wenn Ministerpräsident Erdogan die Episode des Aufstands gegen ihn beendet haben will.

Mitarbeit: Deniz Yücel

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