Verliebt in eine Revolution

TÜRKEI Der Gezi-Park ist das Gesprächsthema Nummer eins unter den türkeistämmigen BerlinerInnen. Ganz gleich, ob sie sich mit dem Protest solidarisieren oder nicht

Sie nennen ihn GAZdogan oder GündoGunn – gemeint ist Recep Tayyip Erdoğan, Ministerpräsident der Türkei und Vorsitzender der Regierungspartei AKP, der seinen KritikerInnen seit mehr als 14 Tagen mit unverhohlener Härte begegnet. Wie kann es aber sein, dass erst langsam erste internationale Stimmen diesem Treiben Einhalt gebieten? Was könnte aus diesem Machtkampf mit Teilen des Volks resultieren? Die taz und das Haus der Kulturen der Welt haben Fachleute wie die Politikwissenschaftlerin Bilgin Ayata, Soziologin Devrimsel Deniz Nergiz oder den Stadtentwickler Orhan Esen zur Diskussion geladen.

■ Türkei: Vom Taksim bis nach Iskenderun — Vereint im Protest, gespalten in der Politik: HKW, John-Foster-Dulles-Allee 10, Sa., 15. Juni., 16 Uhr

VON CANSET ICPINAR

Der Raum im ersten Stock der Kreuzberger Bibliothek am Kottbusser Tor ist bis auf den letzten Stuhl besetzt an diesem Samstagabend. Es ist „Lange Buchnacht“ in Berlin, und Ece Temelkuran, eine türkische Journalistin, die ihr neues Buch vorstellen soll, ist zu Gast. Doch geredet wird nicht über ihr Buch, welches die Geschichte einer Frau erzählt, die den Arabischen Frühling erlebt hat.

Die jüngsten Ereignisse in der Türkei, die Proteste, die vom Gezi-Park das ganze Land erfasst haben, stehen hier im Vordergrund. Denn Temelkuran gehört zu den wenigen regimekritischen JournalistInnen, die vor Ort von den Protesten berichtet haben, und das Publikum hat viele Fragen: über den Wahrheitsgehalt von Meldungen, die in den sozialen Netzwerken kursieren, oder die zukünftige politische Entwicklung der Türkei.

Seit Tagen ist der Gezi-Park das Gesprächsthema Nummer eins unter den türkeistämmigen BerlinerInnen, egal, ob sie sich mit dem Protest solidarisieren oder nicht. In Cafés, in Frühstückshäusern, auf Spielplätzen und in Wohnzimmern wird diskutiert, gestritten, gelacht und geweint. Für viele ist es mehr als nur ein politisches Thema, es bewegt sie emotional.

So auch für Burcu T., die seit Beginn der Proteste die Ereignisse minutiös mitverfolgt. Twitter, Facebook, Livestreams von freien JournalistInnen und Telefongespräche mit Bekannten und Verwandten in der Türkei bestimmen derzeit ihren Alltag. „Ich habe mich noch nie so verbunden gefühlt mit den Menschen in der Türkei“, sagt die junge Mutter. Es sei erstaunlich, ein Gefühl von Euphorie, der Zusammenhalt der DemonstrantInnen, die Zivilcourage der Bevölkerung berühre sie. „Ich bin wie verliebt“, so die 33-jährige Berlinerin.

Für viele ist es mehr als nur ein politisches Thema, es bewegt sie emotional

Das Interesse für das Thema zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten: alte Kemalisten, die schon auf Erdogans konservative Vorgänger geschimpft haben, junge Linke jeglicher Couleur, unpolitische Fußballfans, die sonst nur bei Spielsiegen mit türkischen Fahnen Kreuzbergs Straßen fluten, aber auch antikapitalistische Muslime und traditionelle AKP-WählerInnen kritisieren das autoritäre Vorgehen des türkischen Premiers.

Es scheint sich eine Art Spiegelbild der Zusammensetzung der Menschen auf den Straßen in der Türkei abzuzeichnen, was auch auf die Sympathisanten Erdogans zutrifft. Bis auf wenige, die ihre Meinung auf ihrer Facebook-Pinnwand „öffentlich“ mit Statements wie z. B. „Eine Schande, dieser Radau um ein paar Bäume“ kundtun, beschränken sich die meisten eher auf die Änderung ihrer Profilbilder, auf denen Erdogan eine türkische Fahne küsst, oder das „Liken“ von Facebook-Seiten wie „Recep Tayyip Erdogan – der Stolz der Türkei“. Aktive Solidarisierungen, wie etwa Gegendemonstrationen zu den Soliprotesten, gab es bisher keine.

Für einige BürgerInnen weitet sich das „für oder gegen Erdogan sein“ auch auf private Beziehungen aus. Freunde und Verwandte, die ihrer konträren politischen Ansichten bewusst waren, erleben angespannte Situationen bei Zusammenkünften. „Ich wusste, wenn das Thema einmal angesprochen wird, dann gibt es kein zurück mehr“, so Mustafa S., ein Student, der bei einem Familienbesuch bewusst einer Diskussion aus dem Weg gegangen sei. „Diese Leute sind alle undankbar, Erdogan hat so viel für uns getan“, regte sich einer seiner Cousins auf. „Ich musste mich beherrschen, aber statt einen Familienclinch auszulösen, aß ich meinen Kuchen auf und machte mich, so schnell ich konnte, aus dem Staub“, so der 23-jährige Maschinenbaustudent.

Das Interesse für das Thema zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten

Was in diesen Tagen vor allem türkeistämmige Menschen hier in Deutschland bewegt, bleibt vielen Menschen der Mehrheitsgesellschaft hingegen verschlossen. „In den Nachrichten sind oft nur Bilder von gewalttätigen Auseinandersetzungen zu sehen“, erklärt eine deutsche Cafébesitzerin aus Neukölln. Die Emotionen, der Witz und Esprit, mit dem die DemonstrantInnen an den Protest herangingen, würden nur klar werden, wenn man türkischsprachige Meldungen verfolge.

In der Tat zeigen die DemonstrantInnen viel Humor, so haben die sie die Beschimpfung Erdogans als „çapulcu“ (Plünderer) zur Eigenbezeichnung gemacht, auch in Berlin nennen sich so Sympathisanten des Protests. Was die Entwicklungen in der Türkei in Zukunft für die im Ausland lebende türkischsprachige Community bedeutet, wird sich noch zeigen.

Im Moment kann man allerdings durchaus von einem „Imagewandel“ sprechen. Die zahlreichen friedlichen, politisch durchmischten Proteste zeichnen nun ein anderes Bild der türkeistämmigen Menschen in Deutschland ab, die bisher als homogene Gruppe mit Negativschlagzeilen in die Öffentlichkeit gerückt wurde.