Die Nacht vom Taksim-Platz

GEWALT In der Nacht auf Mittwoch liefern sich Demonstranten und Polizei rund um den Gezi-Park eine Straßenschlacht, wie sie die Türkei in der Ära Erdogan noch nicht gesehen hat. Unsere Reporter waren vor Ort

VON FELIX DACHSEL
UND DENIZ YÜCEL

Dienstagabend, 18.45 Uhr: Einkaufsstraße Istiklal. Am frühen Morgen hatte die Polizei den Taksim-Platz gestürmt und auch die Demonstranten im Gezi-Park mit Pfeffergas beschossen. Für 19 Uhr hat die „Taksim-Plattform“, die zu den Organisatoren der Demonstrationen gehört, zu einer Kundgebung aufgerufen. Vereinzelt sieht man Leute in Atemschutzmasken auf der Istiklal-Straße, ein Hauch von brennendem Gummi liegt in der Luft. Es ertönen Sprechchöre, eine Gruppe ist zum Platz unterwegs. Passanten bleiben stehen und beklatschen die Demonstranten.

19.00 Uhr: Taksim-Platz. Vor einigen Stunden noch in der Hand der Polizei, strömen nun Demonstranten auf den Platz.

19.20 Uhr: Eine Gruppe kommt mit Regenbogenfahnen und Trommeln, linke Gruppen skandieren Parolen, die Linkskemalisten posieren sich vor den Polizeieinheiten, die vor dem Atatürk-Kulturzentrum stehen, und singen die Nationalhymne. 20.000 bis 30.000 Leute sind auf dem Platz. Auch der angrenzende Gezi-Park ist voll.

19.50 Uhr: Auf der östlichen Seite des Gezi-Parks stimmen die Leute in die Parolen der Ultras des Fußballklubs Besiktas (Carsi) ein: „Los, sprüh dein Gas / Wirf den Knüppel weg / Zieh den Helm aus / Zeig, dass du dich traust.“ Die Stimmung ist fröhlich.

20.12 Uhr: Ohne jede Ankündigung oder Vorwarnung schießt die Polizei Tränengasgranaten in die singende Menge. Schreie. Die Menschen rennen in den Park, stolpern über Zelte. Das Gas greift die Augen an, dann den Kopf. Orientierungslosigkeit. Husten, Keuchen. Hunderte fliehen durch eine enge Straße, ihre Sinne vernebelt. Hier hätte es Tote geben können. Die Polizei nimmt das in Kauf.

20.40 Uhr: Gezi-Park. Leute versorgen Menschen mit Mich und Talcid-Lösungen, denen die Augen brennen. Auffällig viele junge Frauen sind dabei. Sie geben Tipps: „Augen kurz schließen, dann blinzeln, ist in zwei Minuten vorbei.“

20.55 Uhr: Zwei junge Männer in Anzügen, Krawatten und Atemschutzmasken laufen vorbei. „Wir kommen aus Levent, direkt von der Arbeit. Wir hatten keine Zeit, uns umzuziehen.“ Levent ist das Istanbuler Bankenviertel.

21.00 Uhr: Ein Pärchen, sie Architektin, er ebenfalls Banker – aus Besiktas, wo es am Anfang der Proteste zu heftigen Straßenschlachten gekommen war. Ist dort wieder was los? „Nein, sonst wäre ich dort. Beim Angriff der Polizei habe ich mit den Carsi-Leuten Besiktas verteidigt, bis ich morgens zur Arbeit musste.“ Die Carsi-Leute und die militanten Linken wissen, wie wir uns verteidigen können, sagt ein Mann, der bei einer internationalen Großbank arbeitet.

21.10 Uhr: Auf der Cumhuriyet-Straße brennen Barrikaden. Es sind die Bilder, die in dieser Nacht um die Welt gehen werden.

21.15 Uhr: Ein Mann telefoniert. „Das waren die von meiner Arbeit. Die wollen, dass ich morgen zurückkomme. Aber das mache ich nicht, ich hab mir Urlaub genommen.“ Er wohnt in Maltepe, einem Armenviertel auf der anatolischen Seite der Stadt, in dem viele Aleviten leben.

21.25 Uhr: Ein fliegender Händler hat Masken. Drei Lira (etwa 1,20 Euro) kosten sie. Gestern waren es noch zwei. Man sieht ihm an, dass er kurz zuvor selber Gas schlucken musste. Während der Händler erzählt, woher er diese Masken hat (Baumarkt), mischt sich jemand ein: „Das sind Staubmasken, keine Gasmasken. Ich weiß vom 1. Mai, dass diese Masken nichts taugen“, sagt er.

21.40 Uhr: Wieder in der Mitte des Parks. Einige Leute singen: „Pfeffergas olé, Pfeffergas olé!“ Es macht Mut.

22.00 Uhr: Alle Luxushotels der Umgebung haben den Demonstranten ihre Türen geöffnet. Handys aufladen. Essen.

22.05 Uhr: Der Konferenzraum eines Hotels dient als Lazarett. Verwundete werden versorgt.

22.10 Uhr: Bizarres Bild: Das Restaurant eines Luxushotels ist voller Demonstranten. Deren Brillen, Atemschutzmasken und Helme liegen auf den Tischen.

22.40 Uhr: Vor dem Hotel: Menschen haben ein Spalier gebildet, durch das Helfer Verletzte ins Hotellazarett tragen. Eine Menschenkette reicht Decken und Medikamente von Hand zu Hand weiter.

23.00 Uhr: Eine Kollegin von einer ausländischen Zeitung hat sich in einem Hotel in der Nähe einquartiert. Blick in den Fernseher: Den kleinen linken Sender Halk TV hat das Hotel nicht im Programm, die übrigen türkischen Sender zeigen Pinguin-Dokumentationen oder Talkshows, in denen Leute das Vorgehen von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verteidigen. CNN International und BBC übertragen die Schlachten auf der Cumhuriyet-Straße von Balkonen aus live.

23.40 Uhr: Zurück im Park. Etwa 10.000 Leute harren hier weiter aus. Explosionen, Lärmgranaten. Schießen sie schon mit Gummigeschossen?

Mittwoch, 0.00 Uhr: Die meisten Zelte stehen noch, aber das fröhliche Chaos ist einem schrecklichen Chaos gewichen. Bei allem Trotz merkt man den Menschen an, wie traurig sie sind. Einige weinen.

0.30 Uhr: Mitteilung von der Bühne: „Freunde, wer Helme, Handschuhe und ordentliche Masken hat, soll bitte die Freunde an den Barrikaden unterstützen. Wir brauchen Leute, die die Gaskartuschen zurückwerfen und Verletzte abtransportieren.“ Ein Mittdreißiger erteilt Anweisungen. „Ich habe als Unteroffizier gedient“, sagt er.

1.00 Uhr: Vor der östlichen Flanke des Parks liegen zwei ausgebrannte Busse. Die Polizei formiert sich vor diesen Barrikaden. Offensichtlich wollen sie sie räumen. „Wenn sie die Busse haben, haben sie den Park“, sagen die Leute dahinter. Der Zugang zum Park ist hier fast ebenerdig, von keiner Seite könnte man ihn so leicht stürmen wie von hier.

1.20 Uhr: Erste Gaskartuschen fliegen in die Menge. Ein paar schnelle Schritte zurück, irgendwer wirft die Kartusche zurück oder ertränkt sie in einem Wasserkanister, dann wieder vor. Vereinzelt fliegen Steine in Richtung Polizei, ein mehrstimmiger Chor ruft die Steinewerfer dazu auf, das zu unterlassen.

1.30 Uhr: Gas.

1.35 Uhr: Gas.

1.45 Uhr: Gas.

2.00 Uhr: Zwei Jungs um die 20 unterhalten sich über die Armeegasmaske, die jemand neben ihnen trägt: „Hält die gut?“ – „Sehr gut. Die kostet aber 150 Lira (60 Euro).“

2.10 Uhr: Die Polizei hat die Busse beiseite geräumt. Am Ende der Straße warten Ambulanzwagen direkt am Lazarett der Parkbesetzer, um Schwerverletzte abzutransportieren. Als jemand auf einer Bahre in den Krankenwagen gebracht wird, fliegen Gaskartuschen auf sie zu. Die Polizisten stehen so nahe, sie können unmöglich übersehen, dass dies ein Krankenwagen ist. Wer hier schießt, tut es in voller Absicht.

2.30 Uhr: Der Versuch, eine Gaskartusche zu ertränken, endet mit einer mittleren Verbrennung am Finger. Handschuhe hätten geholfen.

2.40 Uhr: Die letzte Barrikade ist weg. Die Polizei hat freien Zugang zum Gezi-Park. Ein Teil der Leute flieht in den Park, ein anderer in die Lobby des Hotels. Aus dem Hotelfenster ist zu sehen, wie die Polizei Tränengas in den Park schießt. Und ins Lazarett. Einzelne Kartuschen fliegen zurück.

3.00 Uhr: Der Hoteldirektor spricht: „Herzlich willkommen. Niemand wird sich trauen, unser Hotel anzugreifen. Wir nehmen euch gern auf. Aber bitte bleibt ruhig und tragt die Auseinandersetzung nicht in unser Hotel.“

3.00 Uhr: Im Fernsehen erklärt der Gouverneur von Istanbul: „Am Atatürk-Kulturzentrum und dem Denkmal der Republik hatten marginale Gruppen Transparente und Fahnen angebracht. Die Einsatzkräfte haben interveniert, um diese hässlichen Bilder zu beseitigen.“

4.15 Uhr: Von draußen sind noch Parolen und der Lärm von Räumfahrzeugen zu hören. Über dem Bosporus geht die Sonne auf.

7.00 Uhr: Es ist hell. In der Lobby schlafen knapp 20 Leute. Draußen hat sich die Polizei zurückgezogen. Im Park sind Menschen. Auf der eben noch freigeräumten Straße ist aus Geröll und Schutt eine neue Barrikade errichtet worden.