Der Prothesen-Streik

Die Räder der Mülltonnen stehen still: Ver.di kämpft ab heute und zunächst in Baden-Württemberg gegen die Einführung der 40-Stunden-Woche. Aber ist Streik 2006 eigentlich noch zeitgemäß?

VON THILO KNOTT

„Streik – das ist der Beitrag von Ver.di zum Mozartjahr.“ (Harald Schmidt am 1. Februar 2006)

Über Gewerkschaften kann man getrost Witze machen. Die können einem nichts mehr. Sind ja in der Krise. In der schwersten seit Gründung der Bundesrepublik. Erinnert sich noch jemand an 1974, als die ÖTV trotz Ölkrise 11 Prozent Lohnerhöhung erstreikte – und den Anfang vom Ende des damaligen Kanzlers Willy Brandt einleitete? Erinnert sich noch jemand an 1984, als die IG Metall die 35-Stunden-Woche erkämpfte – mit 52 Tagen (!) im Ausstand? Es ist die romantische Erinnerung an den starken Arm, der alle Räder (auch die der Mülltonnen) stillstehen ließ. Doch heute, vor allem nach dem Streikdesaster der IG Metall 2003 im Osten um die Einführung der 35-Stunden-Woche, scheinen die starken Arme der Gewerkschaften durch Prothesen ersetzt.

Die Mülltonnenräder werden ab heute, zunächst in Baden-Württemberg, erneut stillstehen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di will mit einem Arbeitskampf verhindern, dass die Länder die Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden erhöhen. Es ist der erste Streik seit 14 Jahren. Ende März könnte auch die IG Metall streiken, um ihre Lohnforderung von 5 Prozent durchzusetzen. Aber ist Streiken eigentlich noch zeitgemäß?

Streik, hat der Staatsrechtler Joseph H. Kaiser gesagt, ist „eine echte Analogie des Schauspiels des Krieges zwischen den Staaten“. Gut, das war in den Fünfzigern. Aber noch heute ist das Streikvokabular martialisch. Der schönste Begriff ist der der „Friedenspflicht“, die nach der Kündigung eines Tarifvertrags zunächst eingehalten werden muss. Und danach? Kommt dann, na ja, der „Krieg“ oder sogar die „Kriegspflicht“? Sagen wir es so: Auch heute wird „gekämpft“ – es ist der Kampf um öffentliche Anerkennung.

Bezogen auf die Tarifrunden in diesem Jahr haben die Gewerkschaften unterschiedliche Voraussetzungen: Ver.di ist gegen etwas, die IG Metall ist für etwas. Ver.di will verhindern, dass ihre Mitglieder 18 Minuten am Tag mehr arbeiten. Was sind schon 18 Minuten! Die IG Metall will mehr Lohn durchsetzen und die Qualifizierung der Metaller in einem flächendeckenden Tarifvertrag fördern. Qualifizierung und Weiterbildung ist gesellschaftlich anschlussfähig. Das würde, sollte es zum Arbeitskampf kommen, sicherlich eher goutiert als das Beharren von Ver.di auf einem 38,5-Stunden-Status-quo, der ohnehin kaum mehr Realität ist.

Und noch etwas macht Streiken für Ver.di schwieriger als für die IG Metall: die Gegnerschaft. Ver.di hat keinen Unternehmer zum Gegner. Betroffen sind von Streiks beispielsweise Eltern, die ihre Kinder nicht im Kindergarten unterbringen können. Und wenn der Müll auf der Straße stehen bleibt? Ver.di-Streiks schaden zunächst einmal denjenigen, auf deren Solidarität sie angewiesen sind. Eine schlechte Voraussetzung für den Kampf um Anerkennung. Insbesondere im Jahr 2006, wo der Tenor eher lautet: Seid doch froh, dass ihr überhaupt noch Mülltonnen abholen dürft!

Schon zu Zeiten, als die Arbeitslosenmarke noch nicht bei 5 Millionen lag, waren Streiks hierzulande eher selten. Deutschland belegt, einer Studie der Bundesagentur für Arbeit zufolge, mit durchschnittlich nur 9,1 durch Streiks verlorenen Arbeitstagen pro 1.000 Beschäftigte und Jahr von 1991 bis 2000 einen Spitzenplatz. Sind die Deutschen nicht empfänglich fürs Dissidente und Aufständische?

In hochkomplexen Gesellschaften sind Streiks generell eher ein Fremdkörper. Die Systemlogik ist der Konsens. Das Unwägbare und Irrationale des Streiks wird per Gesetz domestiziert. Und in Deutschland geht die Domestizierung am weitesten. Von Frankreich kennt man das individuelle Recht auf Streik, von Italien das Recht auf politischen Streik. Beides ist in Deutschland nicht gegeben oder verboten.

Hier dürfen nur die Gewerkschaften streiken. Und nur bestreikt werden darf, was in Tarifverträgen festgehalten ist. Das Bundesverfassungsgericht hat schon 1954 festgelegt, dass die Tarifautonomie nur im öffentlichen Interesse wahrgenommen werden darf. Mehr noch: Die Karlsruher Richter haben 1993 klargestellt, dass die Tarifautonomie zum Schutz des Gemeinwohls eingeschränkt werden könne. Gewerkschaften müssen also systemintegrierend wirken. Nur: Wo, bitte schön, soll’s da zum „Krieg“ gehen?

Vor dem „Krieg“ mit Ver.di hat die Stadt Oldenburg ihre Bürger aufgefordert, auf „abfallarmen Einkauf“ zu achten und Restabfälle zu trennen. Auch eine Pointe: Streik – das ist der Beitrag von Ver.di zur Mülltrennung.