Wer hat Angst vorm blauen Mann?

BIATHLON Magdalena Neuner gewinnt im Massenstart ihr zweites Gold und verzichtet fröhlich auf den Staffelstart

„Das Stehendschießen ist mittlerweile mein guter Freund“

MADGALENA NEUNER, MENTAL GESTÄRKT

AUS WHISTLER ANDREAS MORBACH

Magdalena Neuner blickte zur Sicherheit noch einmal kurz nach links, dann nach rechts. Aber nichts war da zu sehen von den Männern und Frauen, die ihr in den letzten zehn Tagen das Sportlerinnenleben zur Hölle gemacht hatten. „Die Leute in den blauen Jacken“ nennt die 23-Jährige ihre unheimlichen Widersacher – und es klingt, als wäre sie nicht gerade auf der Jagd nach olympischem Ruhm, sondern in einer geheimen Mission gegen Eindringlinge aus dem Weltall unterwegs. Aber die blauen Männchen sind gerade nicht da, also kann Magdalena Neuner unbeschwert drauflosplappern.

Nach ihrem zweiten Gold, der insgesamt dritten Medaille, ließ die am Ende wohl erfolgreichste Athletin dieser olympischen Spiele deutlich erkennen: Kinder, ich möchte das alles endlich mal richtig genießen. Denn Neuner mag wie ein Herbststurm an ihren Konkurrentinnen vorbeibrausen, sie mag die schwarzen Scheiben am Schießstand in einem Tempo und mit einer Treffsicherheit abräumen, von der sie vor kurzem nicht zu träumen gewagt hätte: Doch richtiger Genuss war ihr in Whistler bislang noch nicht vergönnt.

Dabei schrieb sie im Massenstart das Drehbuch selbst, und das im Stile einer begnadeten Dramaturgin: Eine Frau, die das Feld in rasanter Aufholjagd von hinten aufrollt, ehe sie bei den führenden Russinnen Olga Medwedzewa, Olga Saizewa und der Slowenin Teja Gregorin zum Showdown beim letzten Schießen Panikattacken auslöst. Denn ihre Gegnerinnen wussten, wer da hinter ihnen zur finalen Übung an den Schießstand kurvte: Magdalena Neuner, für die jeder Schuss aus dem Stand einst eine heikle Angelegenheit war.

War. Denn dank dem frisch ins Programm aufgenommenen Mentaltraining psychologisch nun bestens präpariert, schoss Neuner im Massenstart zum Abschluss rasend schnell – und vor allem: fehlerfrei. Die sieben noch fehlenden Sekunden auf Saizewa waren im Handumdrehen wettgemacht – und Neuner („Das Stehendschießen ist mittlerweile mein guter Freund“) strebte unaufhaltsam dem nächsten Gold entgegen. Während Saizewa und Neuners ebenfalls nach vorne stürmende Teamkollegin Simone Hauswald sich bis ins Ziel ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten.

Immerhin in diesem Duell behielt Saizewa die Oberhand. Die 30-jährige Hauswald, die bei ihren zweiten Olympischen Spielen ihre erste Medaille gewann, war natürlich trotzdem „überwältigt“. Sie habe, erzählte sie, schon am Morgen geahnt, was passieren würde. „Als ich aufgewacht bin, hatte ich ein richtig gutes Gefühl“, erzählte die angenehm unaufgeregte Tochter einer Südkoreanerin und eines Schwaben: „Ich dachte mir einfach: Das ist dein Tag.“

Es war ihr Tag – und einmal mehr auch der von Magdalena Neuner, die am Abend ihres zweiten olympischen Goldlaufs allerdings ihren Verzicht auf die heutige Staffel bekannt gab. „Das war mein letztes Rennen hier in Whistler“, verkündete Neuner in den Bergen oberhalb der Olympiastadt, wünschte ihren älteren Kolleginnen Kati Wilhelm, Andrea Henkel und Martina Beck, die nicht wie sie „schon zwei Goldmedaillen im Nachtschränkchen liegen haben“, für Dienstag alles Gute und prophezeite: „Ich bin mir ganz sicher, dass wir dann am Abend gemeinsam feiern können.“

Definitiv nicht eingeladen werden dazu die olympischen Volunteers im Whistler Olympic Park. Die freiwilligen Helfer in ihren blauen Jacken sind für Magdalena Neuner zu einem extrem roten Tuch geworden. „Als Sportler hat man hier das Gefühl, dass einem überhaupt kein Respekt mehr entgegengebracht wird“, nannte Neuner einige Stunden nach ihrem Massenstart-Sieg einen entscheidenden Grund dafür, warum der Genuss bei ihr in Kanadas Wäldern noch nicht zu seinem Recht gekommen ist. Dann gab es die Details: „Wenn man ins Ziel kommt, wird man einfach am Arm gepackt, gezogen. Das finde ich wirklich unmöglich.“

Schon Stunden zuvor, mit ihrer neuen Sonnenbrille auf dem Kopf, wetterte die leidenschaftliche Harfespielerin über die Blaujacken. Und wie. „Wenn ich mich hier, verschwitzt wie ich bin, nach dem Rennen umziehen will, um nicht krank zu werden, gibt es bei den Leuten dafür überhaupt kein Verständnis. Man wird einfach oft grob behandelt“, echauffiert sich Neuner – und Simone Hauswald ergänzt: „Das ist alles super kompliziert hier. Bei den Dopingkontrollen bekommt man einen Megatext vorgelesen, da ist es ganz egal, ob man zuhört oder nicht. Die würden auch gegen eine Wand reden. So etwas wie hier, das gab es noch nie. Da wird man teilweise nicht als Mensch behandelt.“

Neuner, die sich mit ihrem Verzicht auf die Biathlonstaffel womöglich auch für einen Start im Quartett der Spezialistinnen am Donnerstag schont, kann es sogar noch deftiger. „Das ist schlimmer“, zürnt sie, „als bei einem Schaf, das zum Schlachten geführt wird.“