Tim und Struppi in Istanbul

Literarischer Spaziergang: Orhan Pamuk las im Renaissance-Theater und ließ aktuelle Fragen aus

Pamuk las vom Istanbul seiner Kindheit, als die Stadt von Armut und Verlust ehemaliger Größe geprägt war

Großes Gedränge herrschte am Sonntagmorgen vor dem Renaissance-Theater in Charlottenburg. Dort hatte sich der versprengte Rest des Westberliner Bürgertums versammelt, und am Eingang des Theaters lag eine Unterschriftenliste aus, die zur „Rettung der Ku’damm-Bühnen“ aufrief. Doch an diesem Morgen sollte es um etwas anderes gehen: um den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk.

Als Orhan Pamuk in den Achtzigerjahren die ersten Male nach Deutschland kam, las er noch in Stadtbüchereien oder Migrantenvereinen vor einem rein türkischen Publikum aus seinen Romanen, die damals noch nicht ins Deutsche übersetzt worden waren. Inzwischen ist Pamuk auch dem deutschen Publikum wohl bekannt – spätestens, seit er im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt und in der Türkei vor Gericht stand, weil er vom Massenmord an den Armeniern und Kurden zu sprechen gewagt hatte. Die Klage wurde inzwischen aufgehoben, wie Joachim Sartorius in seiner Einführung hervorhob, doch andere stehen in der Türkei aus ähnlichen Gründen weiterhin vor Gericht.

Es wäre durchaus spannend gewesen, nun Pamuks Sicht auf den aktuellen Karikaturen-Streit, zu Fragen der Meinungsfreiheit und Missverständnissen zwischen Ost und West zu erfahren. So machte man es sich also im plüschigen Interieur des Renaissance-Theaters bequem, um seiner „Berliner Lektion“ zu lauschen. Es wurde dann aber doch nur eine Art literarischer Frühschoppen, weil Orhan Pamuk lieber einen Auszug aus seinem letzten Buch über die Stadt Istanbul las, als Antworten zu Fragen des aktuellen Weltgeschehens zu geben. Stattdessen zog er es vor, über „Hüzün“ zu reden.

Hüzün, das ist für Istanbul so etwas wie Saudade für Lissabon – ein Codewort, das für eine gewisse Melancholie steht, die sich auch in der Musik niedergeschlagen hat: Wie die „Saudade“ beim portugiesischen Fado, bezeichnet auch „Hüzün“ eine Stimmung, die in der Türkei ein ganzes musikalisches Genre geprägt hat. Niemand hat diese Stimmung besser eingefangen als der legendäre Fotograf Ara Güler, dessen Bilder jenes „abendliche Schwarzweißgefühl“ spiegeln, das Orhan Pamuk den Anstoß zu allerhand Betrachtungen gibt. Es sind vor allem Erinnerungen an das Istanbul seiner Kindheit in den Sechzigerjahren, als die Stadt von Armut, Verfall und dem Verlust ehemaliger Größe geprägt war und bevor sie sich in den Neunzigerjahren zu jener globalisierten Metropole wandelte, die heute wieder Touristen, Kulturfreunde und Geschäftsleute aus aller Welt lockt.

Damals, als das Stadtbild noch von Kopfsteinpflaster und dem unaufhaltsamen Verfall der alten osmanischen Holzhäuser war, war es vor allem der winterliche Schnee, der diese Szenerie gnädig zudeckte, wie sich Pamuk erinnert. Seinen Vortrag beendete er mit einer langen Aufzählung solch typischer Impressionen aus der Millionenstadt. So glich seine Rede über weite Strecken einem Diavortrag ohne Bilder – die Impressionen lieferte Pamuk allerdings so meisterhaft, dass sich die Bilder dazu wie von selbst vor dem geistigen Auge einstellten.

Nebenbei erfuhr man, dass sich der Autor jahrelang vergeblich wünschte, der belgische Zeichner Hergé würde eine Episode seiner Tim-und-Struppi-Reihe einmal am Bosporus spielen lassen. Doch daraus wurde nichts. Stattdessen wurde der erste, allerdings erfolglose „Tim und Struppi“-Film in Istanbul gedreht, aber das nur am Rande.

DANIEL BAX