Den Schnupfen richtig genießen

Einige Wahrheit-Tipps für das uneingeschränkte Rotzvergnügen mit der ganzen Familie

Jetzt darf jeder Kranke jedem Gesunden ganz ungezwungen mitten ins Gesicht niesen

Hertha Bleistedts Stimme klingt arg verschnupft und das zerknüllte Papiertaschentuch legt sie den ganzen Tag nicht aus der Hand. Diagnose ihres Hausarztes: schwere Nebenhöhlenentzündung. Doch anders als früher ist es für die 48-jährige Floristin aus Rottweil kein Grund zur Besorgnis mehr, wenn sie einen Schnupfen hat. War sie noch in der letztjährigen Schnupfensaison ängstlich darum bemüht, sich von ihrem Mann und den vier Kindern fernzuhalten, so niest sie ihnen jetzt ganz ungezwungen ins Gesicht. Dabei ist Hertha Bleistedt keine rücksichtslose Rabenmutter – sie und ihre Lieben sind Testpersonen bei einer von „Zewa soft“ gesponserten Reihenuntersuchung über die Behandlung von Erkältungskrankheiten, die vom Institut für Hals-Nasen-Ohren-Kunde an der Universität Tübingen durchgeführt wird.

Den Grundgedanken des Projekts erläutert Prof. Dr. Gerhard Eibendonck folgendermaßen: „Die erkrankte Testperson soll sich anders als bislang üblich ihren Anverwandten voll zuwenden, sie teilhaben lassen an der Krankheit. Auf diese Weise kann die ganze Familie schnellstmöglich mit den Schnupfenviren eingedeckt werden. Die früher übliche Spaltung der Familie in einen kranken und einen gesunden Teil entfällt somit, und mit dem Märtyrertum Einzelner ist endgültig Schluss!“ Geteiltes Leid ist halbes Leid, lautet die Devise des umtriebigen Forschers.

Die Therapie von Prof. Eibendonck schlägt bei den Bleistedts voll an: Das gemeinsam benutzte Familientaschentuch sorgt für eine rasche und gleichmäßige Verteilung der Krankheitserreger auf alle Familienmitglieder, die zeitversetzte Infektion nach dem Schneeballprinzip wird der Gruppe erspart, und als Therapiestufe zwei sorgt dann das gemeinsame Krankenlager für eine drastisch verkürzte Genesungszeit – durchschnittlich konnte, wie Eibendonck nicht ohne Stolz vermerkt, die Krankheitsdauer von früher fünf auf lächerliche zwei Tage gesenkt werden. „Das Wohlbefinden sonst achtlos aneinander vorbeilebender Familienmitglieder kann durch die gemeinsame Bettruhe ebenfalls positiv beeinflusst werden.“

Wie zur Untermauerung von Prof. Eibendocks These niest Hugo Bleistedt seiner Gattin eine volle Breitseite ins nur leicht gerötete Gesicht. Sohn Markus vermerkt den Volltreffer akribisch im Krankheitstagebuch, das den Schnupfenforschern wertvolle Hinweise zu einer weiteren Verbesserung ihrer Therapie geben wird. Und selbst gelegentlich auftretende Unlustgefühle tragen erheblich zur rascheren Wiederherstellung der Kranken bei: Stundenlanges Canasta-Spielen und die zum wiederholten Mal erzählten Schwänke aus Vaters Studentenzeit bringen selbst Tote wieder auf die Beine.

Fallen die Ergebnisse der Langzeitstudie zur Zufriedenheit der Forscher aus, dürfte die Tübinger Schnupfentherapie bald Schule machen und auf die Arbeitswelt ausgedehnt werden. Professor Eibendonck hat auch schon ein paar Tipps für Verschnupfte auf Lager, die dem Betroffenen die Angst vor dem befreiten „Loslassen“ der Krankheitskeime nehmen sollen:

Wenn es in der Nase kribbelt, sollte man die Nähe der Mitmenschen aufsuchen: „Nies nie im stillen Kämmerlein!“

Herzliche Umarmungen zur Begrüßung sind Pflicht bei Arbeitsantritt – sie steigern das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Arbeitskollegen.

Gebrauchte Taschentücher sollten in der Wohnung und am Arbeitsplatz an strategischen Punkten deponiert werden!

Eine U-Bahn-Fahrt zur Rushhour wirkt oft Wunder. Hier spürt der Kranke, dass er mit seinem Leiden nicht alleine ist. Denn: In vollen Zügen niesen ist besser genossen! RÜDIGER KIND