Die Frau, die rauswollte

Als Hatun Sürücü starb, war das öffentliche Interesse an dem Fall groß. Wie konnte es geschehen, dass mitten in Berlin eine Frau auf offener Straße erschossen wird? Ermordet, weil sie nicht nach den Regeln ihrer streng muslimischen Familie leben wollte? Schnell machte der Begriff „Ehrenmord“ die Runde. An der Bushaltestelle, wo die 23-Jährige erschossen wurde, fand eine Mahnwache statt.

Auch heute, ein Jahr nach der Tat, weiß man wenig über die Konflikte innerhalb der Familie Sürücü. Blass bleibt auch das Bild von Hatun, der ermordeten Tochter. Fast alle Familienmitglieder haben vor Gericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, auch gegenüber der Presse äußern sie sich nicht. Andere Zeugen zeichnen ein widersprüchliches Bild von Hatun Sürücü. Die einen schildern die 23-Jährige als selbstbewusst, aufgeschlossen und integriert, andere sprechen von einer verschlossenen und religiösen jungen Frau, die Angst hatte und wusste, dass sie sterben würde.

Hatun Sürücü, die viele Aynur (Mondlicht) nennen, wächst mit acht Geschwistern in einer strenggläubigen Familie in Berlin-Kreuzberg auf. Der Vater, ein sunnitischer Kurde, soll die Schriften des Islamistenführers Kaplan gelesen haben. Bei den Sürücüs wird fünfmal am Tag gebetet, Männer und Frauen sitzen getrennt. Früh tragen die Töchter das Kopftuch.

Mit 15 verheiraten die Eltern ihre älteste Tochter mit einem Cousin in der Türkei. Die Ehe scheitert, Hatun kehrt schwanger nach Berlin zurück und zieht wieder bei der Familie ein. Wenig später bricht sie aus. Der Vater redet nicht mehr mit ihr, mit der Mutter trifft sie sich nur noch heimlich. Liegt es an der Zwangsheirat? Am sexuellen Missbrauch durch einen der älteren Brüder, von dem im Prozess die Rede ist? An den Schlägen, die Hatun von ihren Brüdern einstecken muss? Vieles wird im Prozess angedeutet, klar wird es nicht.

Hatun verlässt die Familie erneut, zieht mit ihrem Sohn in ein Mutter-Kind-Heim, später in eine eigene Wohnung. Sie holt ihren Hauptschulabschluss nach, macht eine Ausbildung zur Elektromechanikerin. In dieser Zeit legt sie das Kopftuch ab, schminkt sich, lässt sich piercen. Sie geht aus, hat Männerbeziehungen. Zweimal soll sie noch verheiratet gewesen sein, einmal für Geld und nur zum Schein.

Immer wieder sucht Hatun den Kontakt zur Familie, häufig wird sie enttäuscht. Sie kämpft, aber ohne Hilfe schafft sie es nicht. Hatun macht eine Psychotherapie, wird von Sozialarbeiterinnen betreut. Doch immer wieder stürzt sie ab. Sie taucht an ihrem Ausbildungsplatz nicht auf, hält Termine nicht ein, geht nicht ans Telefon. Hatun habe ein „distanzloses Verhalten zu Männern“ gehabt, was immer wieder zu Konflikten geführt habe, sagt eine Betreuerin vor Gericht.

Mit ihrem letzten Freund war Hatun seit Silvester zusammen. Seine Freundin habe eine Vermählung nach islamischer Sitte mit ihm gewollt, sagt er – im Haushalt der Eltern. Sollte es also tatsächlich kurz vor ihrem Tod eine Versöhnung gegeben haben?

Tiefe Trauer um ihre Tochter merkt man der Familie nicht an. „Meine Schwester ist jetzt im Paradies“, hat die 22-jährige Arzu Sürücü gesagt. Nahezu wortgleich hat sich Mutlu, der älteste der drei Angeklagten, kurz nach seiner Festnahme geäußert. Hatuns Sohn ist heute sechs Jahre alt, er lebt bei einer Pflegefamilie. SAM, PLU