strafplanet erde: perverse orgien der weisheit von DIETRICH ZUR NEDDEN
:

Merz und Kaminsky saßen beieinander. Wann und wo, dazu sind keine belastbaren Fakten aufzutreiben. Gewöhnlich gut unterrichtete Kreise sind überzeugt, die Zusammenkunft habe stattgefunden an einem Straßenrand im Speckgürtel um eine tortengrafisch fette Industriestadt. Andere Berichterstatter äußern sich vorsichtiger. Sie halten es für nicht ausgeschlossen, dass sich das Treffen inmitten einer Favela zugetragen habe, die in einer strukturschwachen Region liege. Erwartungsgemäß melden sich auch die Anhänger einer dritten Möglichkeit zu Wort. Sie wollen Merz und Kaminsky bei einer um Perversionen bemühten Orgie gesichtet haben.

Die Protagonisten reagieren zurückhaltend, verweigern jede Aussage. Nur so viel verraten sie, dass sie die Ansicht einer Minderheit nicht teilen, sie hätten einen Chatroom betreten oder ein Weblog eröffnet. Auch der Verdacht, ein SMS-Flirt sei Anlass ihres Beieinanderseins gewesen, entbehre jeder Grundlage.

Mehr und Näheres wäre dazu nicht zu sagen, wenn die zwei nicht angefangen hätten, ein Gespräch zu führen. Übereinstimmend vermelden Fachleute, dass Merz und Kaminsky darüber diskutierten, ob sie sich von ihrem gewaltbereiten Arm trennen sollten. Oder ob sie sich vielmehr zunächst einen anschaffen müssten. „Jeder für sich und Gott gegen alle“, dieser Satz sei verbürgt, da sind sich die Experten einig, nur wer von beiden ihn sagte, ist nicht mehr zu klären.

Merz und Kaminsky senkten gelegentlich die Stimme, flüsterten beinahe, auch das steht außer Zweifel. Der Grund dafür war, das haben Sachverständige durch akribische Untersuchungen herausgefunden, dass Merz und Kaminsky Gläubige jedwelcher Konfession und Religion nicht vor den Kopf stoßen wollten, sie weder beschimpfen noch verunglimpfen, ihre Gefühle nicht verletzen, die Grenzen einer wohlverstandenen Meinungsfreiheit nicht überschreiten wollten und so weiter, bla und blum.

Wie rasend, vielleicht aber auch nur neugierig, vermuten Kenner der Szene, soll Merz später zum ersten Band einer Enzyklopädie der Neuzeit gegriffen haben, der von „Abendland“ bis „Beleuchtung“ reiche. Nach Meinung unabhängiger Beobachter habe Kaminsky daraufhin einen Änderungsantrag gestellt, den Band von „Aufklärung“ bis „Erleuchtung“ reichen zu lassen. Wörtlich habe er gesagt: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen.“

In diesem Moment, das haben Insider bestätigt, wobei von anderen der Wahrheitsgehalt bestritten wird, habe spätestens ein Bezug zu gegenwärtigen Ereignissen gefehlt, das erwähnte Zeitalter sei offenbar nicht mehr aktuell. Im Gespräch zwischen Merz und Kaminsky sei die Gegenwart als ein „wild gewordenes Biedermeier“ bezeichnet worden, es kann sich auch um das Wort „digitalisiertes Mittelalter“ gehandelt haben, von einem konzentrierten Disput könne keineswegs die Rede sein.

Eintracht herrscht in der Fachwelt, das irgendwann der Satz gefallen sei: „Sitzend und schweigend erringt die Seele Weisheit.“ Aber wann und durch wen?