Korpus des Lebens

FILM Experiment eigenes Leben: Agnès Vargas, die Grand Dame des Dokumentarfilms, erzählt in „Die Strände von Agnès“ ihre Biografie

Anteil am Leben nehmen. Nicht nur leidenschaftlich, sondern auch leibhaftig

VON ROBERT MATTHIES

Dieselbe Aufmerksamkeit wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard ist Agnès Vargas hierzulande nie zuteil geworden. Dabei gilt die 1928 in Brüssel geborene Filmemacherin unbestritten als „Großmutter der Nouvelle Vague“. Schon ihr erster Film, „La Pointe-Courte“, 1954 im Alter von 26 Jahren und inspiriert von einem Roman William Faulkners gedreht, gilt mit seinem betont literarischen Duktus und gewollt stilisierten Dialogen als richtungsweisend für die Abwendung französischer Filmemacher von konservativen Filmparadigmen und die Hinwendung zum engagierten, radikalen Experiment; wenn nicht als das erste Werk der Bewegung überhaupt.

Stilistisch dem italienischen Neorealismus nicht unähnlich, mit Laiendarstellern in deren gewohntem Milieu gedreht, erzählt Vargas, unterbrochen von fünf ethnografischen Sequenzen über das Leben der Einwohner des Fischerdorfes, die Geschichte einer Beziehungskrise. Die inhaltlich wie stilistisch in Kontrast stehenden Stränge, die der Isolation des Ehepaars das harte Dasein der Fischer gegenüberstellen, führt Vargas schließlich beim traditionellen Joute nautique geschickt zusammen: als verwebe das Paar sein Schicksal mit der Textur, die der Überlebenskampf des Fischerkollektivs knüpft. Die Kunst, Netze zu knüpfen, hierher hat Vargas sie nämlich: von den Fischern im französischen Sète, wo sie aufgewachsen ist, bevor sie sich in Paris zur Fotografin ausbildete.

An die Strände von La Pointe-Courte und Sète ist die Professorin für Film und Dokumentarfilm an der European Graduate School vor zwei Jahren – 80 Jahre alt und nicht nur für ihre experimentellen Spielfilme und die Zusammenarbeit mit Godard, ihrem Ehemann Jacques Demy oder ihre Bekanntschaft mit Andy Warhol und Jim Morrison berühmt, sondern längst auch Frankreichs bedeutendste Dokumentarfilmerin – noch einmal mit ihrer Kamera zurückgekehrt. Um ihre verspielte Autobiografie „Die Strände von Agnès“ zu drehen und aus unzähligen Bruchstücken das eigene Leben zusammenzusammeln. Dokumentarisch und essayistisch. Und mitnichten, um sich daraus ein Denkmal zu errichten.

Nichts ist Vargas fremder als selbstverliebter Pathos und schamlose Selbstinszenierung: Sich selbst, die immer Außenseiterin geblieben ist, wie eine Fremde betrachten, von außen ins Innerste blicken – was Vargas erblickt, sind stets Landschaften: „Würden wir mein Innerstes offenlegen, würden wir Strände finden.“ Wie den belgischen Nordseestrand, über den sie läuft, während sie diesen Satz sagt, zwischen lauter alten Spiegeln, die immer neue Fragmente von ihr zurückwerfen. Vargas bannt nicht Erinnerungen in Bilder, sondern bricht, spiegelt und arrangiert sie beständig neu, wie in einem Kaleidoskop. Anspruchsvolles wie Banales, Nachdenkliches und Tagträume, Dokumentation und Fiktion, Menschen wie Orte: Reflexion als unkonventionelles erzählerisches Experiment, als Reflexion der eigenen Biografie wie des Autobiografischen selbst, als fluider, sich beständig neu zusammensetzender Korpus des Lebens: chaotisch, harmonisch, unbeschwert und melancholisch zugleich.

Und bei aller Fülle voller Leerstellen. Denn auch das lässt sich bei Vargas nicht mehr trennen: die Liebe zum Filmemachen und die Sehnsucht nach dem Filmemacher, dem 1990 verstorbenen Demy. Denn Anteil am Leben genommen hat die Grande Dame des Dokumentarfilms nicht nur leidenschaftlich. Sondern immer auch: leibhaftig.

■ Do, 25. 2., 20 Uhr, Lichtmess, Gaußstraße 25