Sechzig Minuten erstaunte Sehnsucht

DOKFILM Im Januar 1990 organisierten 200 Künstler aus der subversiven Szene der DDR in Paris die Ausstellung „Das andere Deutschland“. Eine längst vergessen geglaubte Dokumentation wird jetzt wieder gezeigt

Nach dem Ende des Defa-Dokfilmstudios fand Kroske seinen Film im Müll wieder

Januar 1990. Die Mauer war grad hingefallen. Viel war noch ein großes Durcheinander. Die einen hofierten die Bürgerrechtler, die anderen setzten auf deren kulturelles Äquivalent sozusagen; die Künstler, die eher neben als gegen den Staat ihre Sachen gemacht hatten. Knall auf Fall – die Vorbereitungszeit hatte vier (andere sprechen von acht) Wochen betragen – war in den ehemaligen Schlachthöfen des Pariser „La Villette“ eine Großausstellung mit 200 Künstlern aus der subversiven Gegenkultur der DDR organisiert worden. Ohne Beteiligung des DDR-Kulturministeriums hatten der französische Journalist Maurice Najman und Christoph Tannert, im damaligen Verband Bildender Künstler der DDR zuständig für Underground, die Sache ins Rollen gebracht.

Performer, Maler, Dichter, Comiczeichner, Fotografen waren bei „Das andere Deutschland – außerhalb der Mauern“ dabei gewesen; die Band Sandow, das Modetheater Allerleirauh, der Filmer und Maler Strawalde, Else Gabriel, der Autoperforationskünstler Micha Brendel, die Band Ornament und Verbrechen, der Ekelzeug-Aktionskünstler Via Lewandowsky, Lutz Rathenow, aber auch Arno Fischer, der einzige Fotografieprofessor der DDR usw. Ein Leitspruch der Ausstellung war „Die Faust im Muttermund“.

Die Sache war ganz groß aufgezogen gewesen, mit 20.000 Besuchern in drei Tagen, Empfang beim damaligen französischen König Mitterrand, riesigem Medienrummel. Organisatorisch war viel danebengegangen: die Ostler hatten ihre Ausstellung selbst aufbauen müssen, waren in Privatfamilien untergebracht worden und hatten anstelle eines Honorars etwa 200 Mark Taschengeld für sechs Tage bekommen. „Ich hab’ den Eindruck, als ob wir das Butterröschen auf der Torte wären, die sich die Franzosen hier reinschieben wollen“, sagt Tannert irgendwann im Film.

Röschen auf der Torte

Zunächst hatte Jürgen Böttcher (Strawalde) die Dokumentation über die Geschichte drehen sollen. Weil der Dokumentarfilmer in seiner Eigenschaft als Maler jedoch selbst während der Ausstellung malen sollte, übernahm sein Assistent Gerd Kroske (der inzwischen recht bekannte Dok-Filmer) den Job. Im April 1990 wurde dem Film die Abnahme verweigert. Nach der Auflösung des Defa-Dokfilmstudios fand Kroske seinen Film auf der Straße in einem Müllberg, nahm ihn mit – und entdeckte die Rollen erst im letzten Dezember wieder.

„La Villette“ dokumentiert die Ausstellung, aber auch eine gewisse Schüchternheit der Filmer und der Künstler, mit denen sie sprechen. Die Brachialität der ausgestellten Kunst wird nur angedeutet; das Ausmaß des organisatorischen Desasters wird kaum benannt.

Wer 1990 dabei war, kann zwischen den Bildern lesen und allerlei Déjà-vus erleben, wenn man den jungen Christoph Tannert reden hört, Autoperforationskünstler, Performer, Bands und Modisten in kurzen Szenen vorbeikommen; wenn DDR-Maler so sympathisch bedächtig sprechen. Der sechzig Minuten lange Film erzählt auch von der erstaunten Sehnsucht der Filmemacher, die in die Stadt ihrer Träume kommen, wenn sie in langen Passagen die Straßen der Stadt zeigen, die Kamera ganz am Schild der Metro-Station Stalingrad hängen bleibt, wenn Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus einem französischen 50er-Jahre-Film über die ehemaligen Schlachthaushallen einmontiert sind und eben die ganzen, meist zweistimmigen Lautréamont-Passagen, die vielleicht der am meisten liebt, dem der Weg nach Paris bis dahin versperrt war.

„La Villette“ ist neben anderem ein guter Film für ein Ehemaligentreffen. Die schönste O-Ton-Passage zu der Ausstellung fand ich jedoch in der taz, in der der damalige, von allen geschnittene DDR-Kulturminister Dietmar Keller mit folgenden Worten verewigt wurde: „Ich habe Schwierigkeiten, wenn ich Zementblöcke und zerrissenes Papier daneben sehe, da ist es nur meine Toleranz und meine Hochachtung vor dem Künstler, wenn ich stehen bleibe und das betrachte und versuche, einen Punkt zu finden. Aber ich gestehe ehrlich, es macht mir unerhörte Schwierigkeiten, mich ohne Hilfe, vielleicht auch ohne Gespräch, mit jemandem, der ebenso wie ich Schwierigkeiten hätte, dem Gegenstand zu nähern.“

DETLEF KUHLBRODT

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