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Die Lichter ziehen wie Wolken

Abbas Kiarostamis „Shirin“ ist entgegen dem ersten Anschein ein alles andere als minimalistischer Film. Der erste Anschein ist dieser: In den neunzig Minuten, die „Shirin“ dauert, sieht man nichts weiter als die Gesichter von Menschen, die einen Kinofilm sehen. In statischen Einstellungen. Shirin zeigt 113 Großaufnahmen von Frauengesichtern, iranischen Schauspielerinnen alle, teils sehr berühmten, und als haargenau gleich inszeniertes Zusatzgesicht, das im Westen wie Osten dennoch aus dem Rahmen fällt: Juliette Binoche. Alle Einstellungen des Films ähneln sich, doch keine gleicht, sieht man genauer hin, einer anderen.

Stets im Vordergrund: In Großaufnahme ein Gesicht, Affektbild par excellence à la Deleuze. Stets mit Kopftuch, aber so verschieden die Ausdrücke, die Züge, die Mienen dieser Gesichter ganz junger, junger, mittelalter und alter Frauen sind, so ungleichartig die Kopftücher. Mal fast nicht sichtbar ganz weit nach hinten gerutscht, mal die Haare fast völlig bedeckend, mal schlicht, mal mit Ornamenten verziert, mal lose geschlungen, mal festgezurrt. Und die Gesichter selbst: gelangweilt, gefesselt, die Augen abgewandt, weinend, staunend, ungerührt, bewegt, erschrocken, gebannt.

Kiarostamis „Shirin“ ist kein Dokumentarfilm. Die Kamera ist wie in jeder Fiktion, die eine eigene Welt schafft, als nicht vorhanden vorgestellt. Deshalb blicken die Frauen, die man sieht, auf die Leinwand und nicht in die Kamera. Es handelt sich um Schauspielerinnen, die namenlose Zuschauerinnen darstellen, die vom Geschehen auf der für uns kein einziges Mal sichtbaren Leinwand bewegt sind. Man muss dazu gar nicht wissen, dass in Wahrheit die Schauspielerinnen gar keinen Film sahen, sondern im künstlichen Flackern des Studiolichts auf eine leere Leinwand mit Markierungen schauten. Den Film, auf den sie reagieren, haben sie imaginiert. Kiarostami hat ihn als reine Soundinstallation erst hinterher inszeniert und im Schnitt mit den vorher fertiggestellten Aufnahmen zusammengefügt. Alles gespielt, alles künstlich und umso wahrer.

So formalistisch die zunächst simple, immer nur variierte Grundanordnung vielleicht klingt: Jede einzelne Einstellung des Films ist ein großartig komponiertes Bild. Nie sieht man nämlich nur die Großaufnahme des Gesichts im Vordergrund. Sie ist stets eingebettet in eine Landschaft aus in die Tiefe gestaffelten blauen Kinosesseln und weiteren Kinozuschauerinnen (und -zuschauern!) in der Reihe dahinter. Die Lichter, die den Film bedeuten, gehen über Gesichter und Sessel, als zögen Wolken rasch vor der Sonne vorüber. So sieht man lebende Gesichter in einem lebenden Bild. Nicht Distanz stellt sich für die Betrachterin deshalb ein, sondern eine emotionale Verbindung zu den Frauen, die tun, was sie selbst gleichzeitig vor der Leinwand (bzw. dem Bildschirm) tut: zusehen nämlich und sich anrühren lassen vom Geschehen im Film.

Einem Film allerdings, den es nur als Fiktion des Films gibt. Oder genauer gesagt: als äußerst elaborierte und im Stereoton differenzierte Tonspur, die reines Melodram ist und nichts mit Filmen zu tun hat, die man von Kiarostami sonst kennt. Da wiehern Pferde, da prasselt der Regen, da werden Menschen zu Soundeffekten geschlachtet, da wird hoch aufgewühlt deklamiert – nämlich Nezamis in Persien hoch berühmtes epische Gedicht „Shirin und Farhad“ aus dem 12. Jahrhundert. Der verblüffendste Effekt aber verdankt sich der Musik. Auch die ist ganz unkiarostamisch, melodramatisch hochgepeitscht, geradezu opernhaft oft. Und während sonst die Ebenen klar getrennt bleiben, verschmelzen in den Musikpassagen Bild, Ton und meine Zuschaueremotion auf ungeahnte Weise: Der von der Musik miterzeugte Affekt springt unmittelbar auf die Gesichtsgroßaufnahmen über. Ich werde in diesen Momenten vom Verbund aus Bild und Musik gepackt, ob Kiarostami das will oder nicht, ganz wie im klassischen Hollywoodfilm. EKKEHARD KNÖRER

■ „Shirin“. Regie: Abbas Kiarostami. Iran 2008. Die DVD ist als Import aus Großbritannien zum Beispiel bei play.com für ca. 15 Euro zu haben