Zu ernst fürs Kabarett

GEMEINDEPLEITE „Es gibt keine Denkverbote mehr, es geht ans Eingemachte“: In Nideggen bei Düren übernimmt erstmals ein Beamter als Sparkommissar die Macht über alle finanziellen Angelegenheiten einer Kommune. Mit kuriosen Folgen

„Die Leute wissen, es geht so nicht weiter. Und viele Bürger haben schon eigene Sparideen entwickelt“

SPARKOMMISSAR BALLAST

AUS NIDEGGEN BERND MÜLLENDER

Das waren noch Zeiten. Im Jahre 1313 hat Seine Blaublütigkeit Graf Gerhard, der Herr über Burg Nideggen, dem Eifelflecken die Stadtrechte verliehen. Damit, so eine Infotafel am Rathaus der Gemeinde, „waren die Bürger von sämtlichen Steuern befreit“. Heute herrschen Begriffe wie Nothaushalt, Überschuldung, Handlungsunfähigkeit, Finanzaufsicht. Nichts geht mehr in Nideggen. Als vor zwei Jahren rüstige Mitglieder des örtlichen Eifelvereins ein paar morsche Ruhebänke an Wanderwegen in Eigenregie reparieren wollten, sah sich der örtliche Bauhof außerstande, ein paar Bretter aufzutreiben. Hilfe zwangsausgeschlagen. Nideggen ist ausgeblutet.

Jetzt ist Ralph Ballast da, 44, Beauftragter der Landesregierung in Düsseldorf. Der Sparkommissar. Der Steuererhöhungskommissar. Vor allem: Der Entmachter. Ballast ersetzt in allen finanziellen Fragen den Stadtrat, der nicht mal nachträglich einen Haushalt für 2012 hinbekam, keinen Sanierungsplan, keinen Etat für das laufende Jahr. Die happigen 20 bis 25 Millionen Schulden der kleinen Gemeinde, sagt Ballast, seien „nicht mal das größte Problem. Das Eigenkapital ist aufgebraucht. Nideggen muss sparen, dass es ans Eingemachte geht.“ Wäre die Stadt eine GmbH, würde sie längst im Insolvenzverfahren abgewickelt.

Der neue Burgherr ist ein freundlicher Mensch, verbindlich, mit manchmal leisem Lächeln, klar strukturiert. Ein Treffen? Gerne, hatte Ballast am Telefon sofort gesagt, aber eine Begleitung in der Alltagsarbeit sei ausgeschlossen: „Da muss ich alle Journalisten enttäuschen. Ich rede mit Bürgern, mit Ratsvertretern, der Bürgermeisterin, und die würden sich dann nur produzieren; verständlicherweise“.

Als Erstes hatte sich Ballast die vielen auseinander liegenden Ortsteile zeigen lassen. Neun Stunden lang. „Um ein Gespür für die Stadt zu bekommen.“ Wichtigstes Merkmal sei „die ausgeprägt starke Verwurzelung von Vereinen und Ehrenamt. Ohne die würde hier gar nichts mehr gehen.“ Mit allen wolle er reden, was kann man ändern, wo sparen. „Vom ersten Tag an“, sagt er, sei er „wirklich überrascht, wie vertrauensvoll wir hier zusammenarbeiten können.“

Zusammenarbeit heißt Ausgaben einsparen und Einnahmequellen suchen. Ballasts erste Amtshandlung: Erhöhung der Gewerbesteuer und des Grundsteuer-Hebesatzes von 450 auf 600 Punkte. Ein Drittel mehr, das trifft Reihenhaus-Eigentümer mit einigen hundert Euro im Jahr. Immerhin: „Jeder Cent bleibt vor Ort“, sagt Ballast. Bis 2018 soll es auf bis zu 990 Punkte hochgehen. Wenn die Einsparwege nicht entscheidend breiter werden. Und weil der aktuelle Zensus neue Zahlen lieferte. Nideggen rutschte in Sachen Einwohneranzahl mit minus 7,1 Prozent (einer der deutschen Topwerte nach Spitzenreiter Aachen nebenan: minus 8,5 Prozent) und nur noch 9.877 Bürgerinnen und Bürger ins Vierstellige. Die Folge: weniger Zuschüsse, fast eine halbe Million pro Jahr. „In der Tat das nächste Problem“, sagt der Sanierer. „Das macht’s nicht leichter.“

Beamter mit Leib und Seele

Ralph Ballast ist Beamter mit Leib und Seele. Nein, nicht jeder Jurist wolle ein großer Strafverteidiger werden. „Ganz bewusst“ habe er „von Anfang an die Verwaltungslaufbahn angestrebt“. Da könne man viel gestalten, immer im Team arbeiten. „Das liegt mir, und das macht mir seit 16 Jahren großen Spaß.“ Genussvoll schleckt er weiter am Spaghetti-Eis in Nideggens Café Venezia.

Marode wirkt Nideggen wahrlich nicht. Fachwerk, Margeritenwiesen, Cafés und Schnitzelrestaurants in gediegener Gutbürgerlichkeit, Kopfsteinpflastergassen, schön herausgeputzt, Panoramablick über die Eifel vor allem von der mächtigen mittelalterlichen Burganlage aus, das Städtchen als Tor zum Nationalpark – ein touristisches Kleinod. Auch weniger adrette Orte im Umkreis kennen finanzielle Probleme in diesem Ausmaß nicht.

Der Nideggener Niedergang ist hausgemacht. Der 26-köpfige Stadtrat (in dem neben den vier üblichen Parteien gleich zwei lokale Bündnisse vertreten sind, etwa „Menschen für Nideggen“) ist komplett zerstrittenen und hat über Jahre keine Mehrheiten für Haushalt und Sanierung zustande gebracht. Sparvorgaben des Landes wurden ignoriert. Vor vier Jahren gab es sogar ein (knapp gescheitertes) Abwahlverfahren der Bürgerschaft gegen den damaligen CDU-Bürgermeister.

Seit 2009 steht die parteilose Margit Göckemeyer, 56, an der Spitze der Stadt. Sie war aus der Verwaltung in Solingen über eine Zeitungsannonce nach Nideggen gekommen und scherzte anfangs über Ballasts Finanzierungsideen: „Wir können ja für jedes Gespräch mit der Presse eine Gebühr verlangen.“ Dass ein Dritter ran muss, sei bedauerlich, sagt sie: „Schön ist anders.“ Sie als Verwaltungschefin habe sich „auch gewünscht, dass der Stadtrat seiner Verantwortung gerecht wird“. Die „ungeheuren Rollenkonflikte“ hätten ihre Mahnungen immer blockiert. „Ich habe allen immer gesagt: Wir müssen Entscheidungen treffen“ – vergeblich. Die Zusammenarbeit mit Ballast sei dagegen „zielorientiert und sehr offen“.

Ob die Ratsvertreter klammheimlich froh sind, dass gut ein Jahr vor der Kommunalwahl ein Externer die unpopuläre Drecksarbeit macht? Ballast grinst einen Moment. „Dazu sage ich nichts.“ Der Sanierer hält sich aus den Querelen heraus. „Das spielt für mich auch keine Rolle. Ich gucke nur nach vorn. Ich muss einen ausgeglichenen Haushalt herstellen.“ Die Bürgermeisterin sagt, sie habe den Rat schon immer auf Entscheidungen gedrängt, „aber wir treten ja seit anderthalb Jahren komplett auf der Stelle“.

Auch geht die Angst um Arbeitsplätze um, die auf ewig erschienen. „Wer weiß, auf welche Ideen der kommt“, sagt ein Angestellter. Nideggen finanziert Stellen bei halböffentlichen Töchtern mit, in regionalen Verbünden und Verbänden. Steigt die Stadt da aus? „Ich werde versuchen, alles zu checken, wofür Nideggen Geld ausgibt“, sagt Ralph Ballast. Das klingt wie eine Drohung. „Kann ich nicht ändern.“ – „Vielleicht vergisst er uns“, sagt ein Betroffener.

Der Sparkommissar sagt, er sei im Alltag noch nicht beschimpft worden, wohl hat es durchaus spitze Bemerkungen gegeben wie Steuerfrechheit und Diktatur. Ballasts Namen fälschlich hinten zu betonen, das sei auch durch. Verständnis hat er: „Steuern erhöhen und sparen erfreut niemanden. Das fänd ich als Bürger auch nicht gut.“ Aber: „Die Leute wissen, es geht so nicht weiter. Und viele Bürger haben schon eigene Sparideen entwickelt.“

Welche? „Keine Details. Erst wollen wir alles sammeln, checken, besprechen, durchrechnen.“ Im Moment zählten ohnehin nur „Gespräche, Gespräche, Gespräche“. Am Morgen hatte er wieder mit dem Kämmerer zusammengesessen, am Nachmittag geht es weiter mit der Ortsfeuerwehr, mit den nächsten Vereinen und Ratsfraktionen.

Einer wie Ballast ist das letzte Mittel der Finanzaufsicht, wenn eine Kommune das Wirtschaften nicht hinbekommt. Sicher ist Ballast der Erste in NRW. Und bundesweit? „Das haben wir versucht zu recherchieren“, sagt er, „aber ohne Ergebnis.“ Wie forscht man von Amts wegen, in einer Art bundesweitem Behörden-Intranet? „Nein, ganz schlicht durch Googeln. Aber wir haben nichts gefunden.“ Vielleicht liege es aber daran, dass in anderen Ländern Tätigkeiten wie seine vor vielleicht 40 Jahren ganz anders genannt wurden. Bis zum Beweis des Gegenteils ist Ballast seit dem 7. Mai 2013 also deutschlandweit Pionier.

Parkuhren anschaffen

Im Juli soll es ein Bürgerhearing geben. Im Herbst will Ballast nachträglich den Haushalt 2013 beschließen. Dann darf (und kann?) Nideggen ohne ihn wieder handeln. Etwa Parkuhren anschaffen, um endlich Parkraum zu bewirtschaften, was an die 30.000 Euro im Jahr bringen soll. Mittelfristig, wird geraunt, könnte sogar das Rathaus verkauft werden – die Verwaltung würde in leer stehende Schulräume umziehen.

„Ans Rathaus“, räumt Ballast ein, „da wollen wir tatsächlich dran, als Idee.“ Erst käme ein Wertgutachten, dann das Durchrechnen, dann Käufersuche. „Es gibt in Nideggen keine Denkverbote.“ Und nicht immer Konsens. „Den suche ich nicht. Ich treffe Entscheidungen. Nichts ist unantastbar.“ Zum Glück ist die stolze Burg Eigentum des Kreises.

Das Wirken eines solchen Landesbeauftragten hat durchaus kuriose Züge. Ballast lädt zur Ratssitzung. Nach allen formalen Bedingungen. Mit Beginn der Sitzung stellt er dann die Beschlussfähigkeit fest. Das ist leicht: Der einzige Rat ist derzeit er selbst. Die gewählten Stadträte sitzen im Publikum. Er leitet die Sitzung, erteilt sich das Wort. Keine Gegenreden. Entscheidungen sind immer einstimmig … „Kabarettistisch könnte man da sicher ’ne Menge draus machen“, muss Ballast zugeben. Um gleich einzuschränken: „Für mich ist es kein Kabarett. Dafür ist alles zu ernst.

Indes hat man in Nideggen durchaus schon Schlimmeres erlebt. Der gewalttätige Graf Wilhelm hielt jahrelang einen Bischof von Köln im dunklen Burgverlies gefangen, später warf er sogar die eigene Gemahlin Alveradis in den Kerker. „In seiner blutrünstigen Mordlust“, schreibt der Heimatverein, habe er sie mit Honig bestreichen lassen und in einem eisernen Käfig aufgehängt, hoch am Bergfried, dem „Jenseitsturm“. „So sollte sein armes Weib von Bienen und Wespen zu Tode gestochen werden.“

Eine Gruppe mutiger Frauen aus Nideggen, so die Sage, haben ihre gräfliche Schwester befreit. Heute müssten die Tatenlosen von Nideggen dafür wohl auch nach einen Herrn Ballast rufen.