Land verstößt Dauerpatienten

Mit der Sonderbehandlung des Ruhrgebiets ist Schluss, sagt die Landesregierung: Künftig konkurriert das Revier mit anderen Regionen um Fördergelder. SPD: „Todesurteil für die Region“

VON MIRIAM BUNJES

Die Stadt Herten hat sich mit ihrer Zukunft abgefunden. Schon seit fast fünf Jahren werden drei Fakten täglich in Politik und Verwaltung bearbeitet. Erstens: Herten wird in den nächsten 15 Jahren mehr als zehn Prozent seiner Einwohner verlieren. Zweitens: Die Hertener werden immer älter. 2020 sind sie durchschnittlich 49,6 Jahre alt. Schon jetzt leben deutlich mehr 80- als Siebenjährige in der noch 65.500-Einwohner-Stadt. Und drittens: Die meisten der wenigen Kinder haben Migrationshintergrund. „Wir müssen das offensiv angehen“, sagt der städtische Baurat Volker Lindner. „Wir können es eh nicht ändern.“

Herten nennt sich deshalb „Vitalstadt“ und hat die Infrastruktur an Senioren-Bedürfnisse anpasst: Es gibt altengerechte Wohnprojekte, im Dienstleistungssektor werden Pflege-, Wellness- und Hilfsdienstleistungen besonders gefördert. Und obwohl die Familien Herten verlassen, baut die Stadt die Kinderbetreuung aus. „Wir müssen die Familien halten und unsere Migranten gezielt fördern“, sagt Lindner. Die Schrumpfung sei unaufhaltbar und müsse daher als Chance gesehen werden, die städtische Infrastruktur auf die Bedürfnisse der neuen Stadtgesellschaft auszurichten.

Alleine schafft Herten das jedoch nicht. „Wir haben Ideen und engagierte Bürger, aber eine mehr als leere Stadtkasse“, sagt Lindner. Tatsächlich muss der Hertener Kämmerer Jahr für Jahr bei der Bezirksregierung um eine Haushaltsgenehmigung kämpfen. Und die Schrumpfung heißt für Herten auch, dass die Stadt weniger Geld vom Land Nordrhein-Westfalen bekommt. „Je weniger Einwohner, desto weniger Schlüsselzuweisungen“, sagt Lindner. „Unsere Ausgaben bleiben aber leider immer gleich hoch, weil wir die Lebensqualität eben nicht noch weiter abbauen wollen.“

Probleme, vor denen fast jede Stadt im Ruhrgebiet steht – und das nicht erst seit gestern. Dass der Pott langsam vergreist, hat eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung jetzt noch einmal bestätigt: Danach werden die Ruhrgebietsstädte bis 2020 bis zu 11 Prozent ihrer Einwohner verlieren. Vor allem die Familien und gut ausgebildeten jungen Leute gehen weg (taz berichtete). Doch trotz des damit verbundenen Strukturwandels will die schwarz-gelbe Landesregierung jetzt die jahrzehntelange Praxis beenden, das geplagte Ruhrgebiet finanziell besonders zu unterstützen. Die Förderung wird künftig an Bedingungen geknüpft, kündigte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) an. Vor allem soll das Ruhrgebiet künftig mit anderen Regionen in NRW in Wettbewerb um die Fördergelder treten. „Wettbewerb ist die einzig wirksame Methode, um zu ermitteln, welche Produkte und Dienstleistungen Zukunftschancen haben“, sagte Rüttgers.

Für das Ruhrgebiet stehen damit nicht nur die rund vier Millionen Euro Landesgeld auf dem Spiel, sondern auch mehr als 40 Millionen Euro EU-Strukturfördermittel, die an eine Ko-Finanzierung durch das jeweilige Bundesland gekoppelt sind. „Der Wettbewerb mit dem übrigen Nordrhein-Westfalen ist das Todesurteil für die Region“, sagt Ralf Jäger, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion. „Das Ruhrgebiet hat nicht die gleichen Startchancen wie andere Regionen des Landes.“ Deshalb werde das Ruhrgebiet das Geld verlieren. Und damit auch die Chance, den Strukturwandel zu beschleunigen. „Es geht hier offenbar darum, das politisch nicht genehme Revier noch weiter zu schwächen.“

Die schwarz-gelbe Landesregierung hingegen hält die Ruhrgebietspolitik ihrer Vorgänger für verfehlt. Rüttgers kritisiert insbesondere die „Leuchtturm-Politik“, die teure Projekte in einzelnen Städten mit Millionen förderte. Der Ministerpräsident will künftig nur noch regional übergreifende Konzepte fördern. „Wir erwarten, dass die Kommunen künftig enger zusammen arbeiten“, so Rüttgers.

Diesen Traum hat Duisburgs Stadtentwicklungsdezernent Jürgen Dressler schon fast ausgeträumt. „Zusammen könnte das Revier unfassbar viel Geld sparen“, sagt er. Aber stattdessen gebe es in fast jeder Stadt ein riesiges Fußballstadion und ein Konzerthaus mit eigener Philharmonie. „Dieses Geld sollte in die Migrantenbildung fließen, da hätte es nachhaltige Wirkung.“ Auch Duisburg wird um zehn Prozent schrumpfen. Die Stadt will die leeren Häuser abreißen und an ihre Stelle Bäume pflanzen. In die Armuts- und Migrantenviertel Marxloh und Hochfeld soll künftig mehr investiert werden. Dressler: „Hier leben schließlich die Kinder, die Duisburgs Zukunft sind.“