Ein Speisezimmer zwischen Kränen

MOABIT Das kleine Gourmetrestaurant Paris–Moskau steht am äußersten Rand von Moabit, seit Jahren umzingelt von Bundesbaustellen. Die politische Mitte des Landes kriecht immer näher heran an den ehemaligen Arbeiterbezirk und verändert ihn jetzt schon spürbar

■ Gebiet: Der zentral gelegene Stadtteil misst 7,72 Quadratkilometer. Bis 2001 gehörte er zum Bezirk Tiergarten – jetzt zu Mitte. Aufgeteilt ist er in fünf Kieze.

■ Bevölkerung: 72.145 EinwohnerInnen (Stand: 31. Dezember 2012), Dichte: 9.345 EinwohnerInnen pro Quadratkilometer.

■ Altersstruktur: Das Durchschnittsalter liegt zwischen 38 und 40 Jahren. Nur 18 Prozent sind Familien, 59 Prozent Singles.

■ Mieten: Durchschnittlich zahlen die Moabiter MieterInnen 7,90 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Die Mieten stiegen im letzten Jahr um 9,6 Prozent (Quelle: Immobilienscout 24).

■ Sozialstruktur: Die Arbeitslosenquote liegt bei 12,4 Prozent, der Anteil der Bevölkerung mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit bei 25,4 Prozent. Einen Migrationshintergrund haben sogar 44,4 Prozent der BewohnerInnen.

■ Besonderheit: Die Justizvollzugsanstalt Moabit und das größte Kriminalgericht Europas liegen mittendrin.

VON NINA APIN

Wenn Wolfram Ritschl aus dem Fenster seiner Gaststube schaut, blickt er in ein Loch. Der Blick aus der winzigen Toilette im Erdgeschoss, aus dem Speisezimmer im ersten Stock, von der Terrasse hinüber zur Spree: Das Loch ist überall. Eine gigantische Baustelle gähnt unter dem Restaurant Paris–Moskau, sie umzingelt von drei Seiten das Fachwerkhäuschen, das auf der Brücke zwischen Moabit und der Südseite des Hauptbahnhofs steht. Von außen sieht es aus, als knabberte die Baustelle des neuen Bundesinnenministeriums das kleine Haus an.

Aus dem Inneren, wo der Inhaber an einem der dunklen Tische mit weißer Tischdecke sitzt, sieht man, wie auf einem Wimmelbild, unzählige Bauarbeiter mit gelben Helmen, die zwischen Kränen und Betonverschalungen auf einer plastikfolienbedeckten Fläche herumwuseln. Diese Fläche, erklärt Wolfram Ritschl, wird einmal das Tiefgaragendach des Ministeriums mit 218 Stellplätzen. Das Dach soll exakt auf Höhe seines Parkettfußbodens abschließen, die Baupläne des Architekten sehen vor, dass Ritschls Gäste auf einen öffentlich zugänglichen Platz mit kleinen Baumreihen schauen werden. Nicht die schlechteste Aussicht, findet der Wirt, der seit 29 Jahren das Restaurant am äußersten Rand Moabits betreibt. „Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch in ganz Deutschland, der diesen Bau will“, sagt er sarkastisch. Die Baubeteiligten hingegen täten alles, damit sich die Fertigstellung so lange wie möglich verzögere.

Der neue Standort des Ministeriums, das derzeit zur Miete in einem Gebäude am Moabiter Spreebogen residiert, ist eines der größten Bauvorhaben der Bundesregierung. Bereits 2009 hatte der Haushaltsausschuss die Planungen abgesegnet, der erste Spatenstich erfolgte im Winter 2010. Doch eine Vergabebeschwerde brachte die Bautätigkeit zum Erliegen, erst im Frühjahr 2012 ging es weiter. Wolfram Ritschl hat diese Verzögerung viel Geld gekostet: Seit 2009 ist sein Eingangsbereich ruiniert, das Gehwegpflaster abgetragen, auch durch den hässlichen Baustellenzaun seien die Umsätze spürbar zurückgegangen. Besonders sauer ist er auf den „schwarzen Kasten“, den ihm das Architekturbüro Müller/Reimann mitten auf die Terrasse gesetzt hat. Der dunkle Schuppen verdeckt die Mülleimer – und eine steile Treppe in den Keller unter dem Restaurant. Ritschls eigene Terrassenplanung, die einen Aufzug und größere Toiletten vorgesehen hatten, wurde ignoriert. Ein Grund dafür, dass die Architekten, die nach der Auftragsvergabe noch zu ihrer Weihnachtsfeier ins Paris–Moskau luden, dort nicht mehr gern gesehen sind.

Alle außer Wowereit

Lieber begrüßt der Wirt Mitarbeiter vom neuen Total-Tower am Hauptbahnhof, von der Deutschen Bahn oder Vertreter der Moabiter Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Allesamt gute Kunden, auch die Politiker aus dem Regierungsviertel schauen oft bei ihm vorbei: Merkel, Schäuble, Roth – bloß Wowereit sei noch nie dagewesen.

Der promovierte Historiker Ritschl, der das Häuschen 1984 kaufte, hat mit seinem nach der Eisenbahnstrecke Paris–Moskau benannten Lokal auch die rasante Entwicklung der Stadtmitte erlebt. In den 80ern, sagt er, sei Westberlin „wie ein Guglhupf“ gewesen: „mit einem Loch in der Mitte und einem saftigen Rand“. Die Gourmetszene traf sich draußen in Hermsdorf und Waidmannslust. Nach Moabit kamen höchstens die Fernfahrer, die bei den Vorbesitzerinnen – Mutter und Tochter – Hausmannskost aßen und sich im ersten Stock mit Prostituierten vergnügten.

In den Anfangsjahren des Paris–Moskau kamen Westberliner Intellektuelle und Prominente, aber auch die akademische Klientel von Moabit. Nach dem Regierungsumzug wurde Berlin dann „zum Kegel: alles konzentrierte sich in der Mitte, die Ränder verdorrten“. Politiker und Ministerialbeamte kommen seither – und auch immer mehr Lobbyisten. Den aktuellen Veränderungen sieht Ritschl eher skeptisch entgegen: 2015 sollen die Beamten des Innenministeriums in den Neubau ziehen. Weil ein guter Teil von ihnen aber vorerst in Bonn bleibt, werden Zoll und Bundespolizei mit einquartiert. Dass ausführende Organe sich das Haus mit dem zuständigen Ministerium teilen, hält Ritschl für eine Verletzung der Gewaltenteilung, so eine Nachbarschaft habe „einen üblen Geschmack“.

Noch mehr regt sich der Gastronom über eine weitere Baustelle hinter dem Hauptbahnhof auf: Die Hochsicherheitszentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND), die für 900 Millionen Euro an der Chausseestraße entsteht, gehört seiner Meinung nach an den Stadtrand. Mitten in der Stadt störe sie den Alltag der Bewohner und werde auch das Moabiter Lebensgefühl verändern. Ebenso wie das geplante Stadtviertel Europacity, das ab 2014 entlang der Heidestraße gebaut wird und auf dem mehr als 1.400 Wohnungen, Konzernzentralen und Hotels geplant sind.

In den achtziger Jahren war das gastronomische Westberlin „wie ein Guglhupf“, sagt Ritschl, „mit einem Loch in der Mitte und einem saftigen Rand“

Dass all diese Großbauprojekte das einstige Arbeiterviertel Moabit weiter verändern werden, liegt auf der Hand. Die Straßenbahngleise, die derzeit vom Hauptbahnhof aus verlegt werden, sollen zwar auf der Straße Alt-Moabit unter der Brücke mit dem „Paris–Moskau wenden“. Doch auch wenn eine Weiterführung der Gleise bis zum Gefängnis und den Gerichten derzeit nicht geplant ist: Eine erste Anbindung nach Mitte ist gemacht. 2017 soll die Strecke in Betrieb gehen.

Schon jetzt steigen die Mieten, billiger Wohnraum wird knapp. Das merkt man nicht nur in der spreenahen Calvinstraße, wo Mieter gegen die Umwandlung ihrer 60er-Jahre-Sozialwohnungen in Luxusapartments kämpften – und kürzlich vor Gericht unterlagen.

Fahrradlofts im Ex-Hertie

Auch in weniger wohlhabenden Ecken wie dem Stephankiez ist der Run auf Eigentumswohnungen groß. In der Turmstraße, der zentralen Einkaufsmeile von Moabit, scheint der Niedergang des Einzelhandels gestoppt: Statt Spielhallen und Ein-Euro-Läden gibt es im ehemaligen Hertie-Gebäude wieder Einzelhandel, ein Gesundheitszentrum – und jetzt auch Pläne für Eigentumswohnungen, die auf fahrradfahrende Singles zugeschnitten sind. Wolfram Ritschl, der in den Achtzigern direkt am S-Bahnhof Bellevue wohnte und nachts vom Brummen der Schiffsmotoren auf der Spree aufwachte, bereut heute, sich nicht rechtzeitig eine Wohnung in Moabit gekauft zu haben: „Jetzt kann ich mir dort vermutlich nichts mehr leisten – nur noch mein Restaurant“, bedauert der Wirt, der mittlerweile in Frohnau lebt.