Renaissance in Maßen

STILLEN Obwohl die gesundheitlichen Vorteile der Muttermilch bekannt sind, wird in Deutschland immer noch zu wenig gestillt

Informationen: Die Nationale Stillkommission bietet Informationsblätter zum Stillen an, u. a. Empfehlungen zur Stilldauer und zum richtigen Anlegen des Kindes. Kostenloser Download beim Bundesinstitut für Risikobewertung, www.bfr.bund.de/cd/711

Stillberatung: Hebammen geben im Rahmen der Geburt und Nachbetreuung im Wochenbett Tipps zum Stillen, was zu den Leistungen der Krankenkassen zählt. Auch Mütter mit eigener Stillerfahrung und entsprechender Aus- und Weiterbildung bieten auf ehrenamtlicher Basis Mutter-zu-Mutter-Beratungen bei Stilltreffen und in Stillgruppen an. Neben der Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen e. V. (AFS, www.afs-stillen.de) gibt auch die La Leche Liga Deutschland e. V. (LLL, www.lalecheliga.de) Stillberatung. Beide Selbsthilfegruppen wollen die Stillkultur in Deutschland fördern.

Hebammen: Unterweisung durch ausgebildete Sillberaterinnen und angeleitete Stillgruppen vermittelt der Berliner Hebammenverband. Eine Liste mit Stillberaterinnen findet sich unter www.berliner-hebammenverband.de

VON OLE SCHULZ

Man könne von einer regelrechten „Stillrenaissance“ sprechen, sagt Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe des Berliner St.-Joseph-Krankenhauses. Doch von dem durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2001 formulierten Ziel sei man gleichwohl „noch weit entfernt“. Damals hatte die WHO dringend empfohlen, dass Mütter ihre Babys sechs Monate lang voll stillen sollten.

In Deutschland jedenfalls wird diese Vorgabe nicht annährend erfüllt. Vor zehn Jahren hat die Nationale Stillkommission die bisher umfangreichste Untersuchung zum Thema in Auftrag gegeben: Laut der sogenannten SuSe-Studie („Stillen und Säuglingsernährung“) wollten unmittelbar nach der Geburt immerhin 90 Prozent der Mütter ihre Säuglinge stillen. Nach einem halben Jahr waren es aber nur noch 10 Prozent, die ihre Babys „ausschließlich“ mit Muttermilch fütterten.

Mittlerweile ist die Zahl der Mütter, die länger stillen, jedoch deutlich gestiegen: „Laut einer aktuellen bayerischen Studie sind es inzwischen 20 Prozent der Mütter, die sechs Monate voll stillen“, sagt Abou-Dakn. Ähnliche Zahlen hätte auch eine Berliner Untersuchung ergeben.

Unstrittig sind seit Langem die Vorteile des Stillens gegenüber künstlicher Säuglingsnahrung. Zahlreiche Studien auf der ganzen Welt haben gezeigt, dass die Muttermilch nicht nur das Risiko von Infektionskrankheiten bei Kindern unter einem Jahr verringert, sondern auch positive Langzeiteffekte auf deren Gesundheit hat. Trotzdem war das Stillen bei uns jahrzehntelang aus der Mode gekommen. Während früher die Erfahrungen mit dem Stillen von Generation zu Generation weitergegeben wurden, ist dieses Erfahrungswissen längst verloren gegangen.

Das ändert sich hierzulande zwar langsam wieder, aber von solch traumhaften Quoten wie in Norwegen, wo 80 Prozent der Frauen stillen, ist man noch weit entfernt. Dafür, dass in Deutschland die meisten Mütter bis heute zu kurz stillen, macht Abou-Dakn auch die „vielen Anfangsfehler“ in den Kliniken verantwortlich. Denn es braucht Sensibilität und Zeit, um auf den Wochenstationen eine Umgebung zu schaffen, die Mutter und Kind dabei hilft, sich an das Stillen zu gewöhnen. Dafür müssten auch die Mitarbeiter entsprechend geschult sein und der „natürliche Prozess des Stillens“ dürfe „nicht durch die Krankenhausroutine gestört werden“, sagt Abou-Dakn.

Abou-Dakn ist Vorsitzender der 1991 gegründeten Initiative „Babyfreundliche Krankenhäuser“ (BFHI). In diesen Kliniken darf zum Beispiel nicht mit Tee oder Zuckerlösung beigefüttert werden, was andernorts noch verbreitet ist. Laut Abou-Dakn sei die Stillquote in den babyfreundlichen Krankenhäusern deutlich höher als in den normalen. Doch von dem gegenwärtigen Gesundheitssystem, das nach pauschalen Sätzen abrechnet, würden diese Kliniken nicht ausreichend gefördert: „Wir brauchten finanzielle Anreizsysteme für diese pflegeintensive Arbeit.“

Der Prozess des Stillens darf nicht durch die Krankenhausroutine gestört werden

In Berlin gebe es, so Abou-Dabn, mit dem Tempelhofer St.-Joseph-Krankenhaus, dem Sana Klinikum in Lichtenberg, dem Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe und dem Vivantes Humboldt-Klinikum immerhin vier Kliniken, die die „babyfreundlichen“ Kriterien erfüllten. Darüber hinaus sei aber ein generelles gesellschaftliches Umdenken gefragt. Obwohl der Mutterschutz eine gesetzliche Grundlage geschaffen habe, müsse zum Beispiel die Möglichkeiten für Mütter, während ihrer Arbeit zu stillen, verbessert werden. Abou-Dakn erinnert an das Berliner Abgeordnetenhaus, wo erst im letzten Jahr ein Stillzimmer eingerichtet wurde.

Müttern, die ihre Babys länger als ein halbes Jahr stillen wollen, empfiehlt Abou-Dakn, irgendwann mit dem Zufüttern zu beginnen. Um dem Nachwuchs ausreichend Eisen und Vitamine zukommen zu lassen, solle man „nicht vor dem fünften und spätestens ab dem siebten Monat“ langsam mit Beikost anfangen. Ab wann genau zugefüttert werden solle, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander. Die WHO empfiehlt nach sechs Monaten Vollstillen ein Teilstillen bis mindestens zum zweiten Geburtstag des Kindes.

Doch die Berliner Kinderärztin und Ernährungsspezialisten Renate Bergmann sieht das anders: Die emeritierte Professorin kennt „keine auf festen Füßen stehende wissenschaftliche Untersuchung“, die nachweist, dass es am besten sei, sechs Monate voll zu stillen. Bergmann, die Gründungsmitglied der Nationalen Stillkommission ist, verweist vielmehr auf Studien, die Hinweise darauf liefern, dass es unter den Umständen, in denen wir leben, eventuell sogar besser sein kann, schon nach vier Monaten mit dem Zufüttern zu beginnen. Während die Stillvorgabe der WHO in den armen Ländern des Südens angesichts unhygienischer Verhältnisse sinnvoll sei, sei das bei uns anders, sagt Bergmann. Hier sei es umgekehrt gerade wichtig, dass Kleinkinder mit Dreck und Keimen in Berührung kämen, damit sie Toleranzen entwickeln.