Der Sog der Elemente

IWANOWS GEBOTE Zweimal täglich bade in kaltem Naturwasser. Bade da, wo du gerade kannst: im Teich, Fluss, Bad. Besiege Geiz, Faulheit, Habgier und Angst. Warum Maria bei jedem Wetter badet

■ Maria, 74, ist 2001 als Spätaussiedlerin aus dem ukrainischen Tscherkassy mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Nach insgesamt einem Jahr im niedersächsischen Durchgangslager Friedland und in der Landesaufnahmestelle Empfingen bekam die Familie die Möglichkeit, in Wendlingen zu leben. Als Mutter, Sohn, Schwiegertochter und Enkelinnen ins benachbarte Kehlheim zogen, entschied sich Maria gegen ein Leben im Familienbund und für das Leben nahe an der Lauter.

VON KATJA HUBER

Ophelia hat es getan, Esther Williams und Franzi von Almsick auch: Manche gehen ins Wasser, weil in ihm etwas ist, was kein anderes Element verspricht. Andere tun es genau einmal, weil sie die endgültige Erlösung suchen. Wieder andere baden regelmäßig und erhoffen sich davon Gesundheit, Reinheit und Seelenheil. Und es gibt solche, die entwickeln dabei Zwänge, eine ausgeprägte Rücken- und Oberarmmuskulatur und sichern sich fürs nächste Leben eine Karriere als Bademode-Model, Fernsehmoderatorin oder Werbeträgerin.

Maria steht mit geschlossenen Augen im Badeanzug am Ufer der Lauter, eines kleinen Flüsschens nahe Stuttgart-Wendlingen und atmet tief ein. Mit Schneeflocken im Haar, Lächeln im Gesicht und ohne einen Quadratmillimeter Gänsehaut am Körper wirkt sie nicht wie ein Mensch mit zwanghafter Persönlichkeitsstruktur. Bei minus 4 Grad Celsius Außentemperatur läuft ihr Kreislauf auf Hochtouren, die Lauter lockt, und Maria muss da jetzt rein.

Jetzt, am Vormittag, und später, am Nachmittag. Auch morgen und übermorgen wird sie wie täglich in den letzten acht Jahren zweimal am Tag ins Wasser gehen. Maria atmet tief aus und ein: „Am besten, du denkst an nichts, außer an das, was du dir am allermeisten im Leben wünscht“, sagt sie und atmet tief aus: „Du atmest ein bis die Lungen voll sind, hältst die Luft an und gibst dann all deine Probleme und Schmerzen über die Beine und Füße an die Erde ab, die alles aufnimmt. Drei lebendige Körper: Luft, Wasser und Erde.“

Maria atmet tief ein: „Das Wichtigste ist, dass du mit dem Kopf untertauchst, um den zentralen Nervenapparat des Gehirns zu erwecken. Der gibt dann an die Wirbelsäule den Befehl ‚Warm werden!‘ ab, dein ganzer Körper heizt sich auf, und kühlt auch später nicht aus!“ Maria atmet aus, öffnet die Augen und watet durch knietiefes Wasser. Nein, sie schreitet.

Schon an ihrem aufrechten Gang, an ihren entspannten Schultern, sieht man, dass sie keine Gelegenheitsbaderin sein kann. In der Mitte des Flüsschens beginnt sie dann auch eine Performance mit dem Wasser, Ergebnis einer über Jahre erprobten Choreografie: Sie benetzt Arme und Oberkörper und blickt zum Himmel, streichelt mit beiden Händen die Oberfläche des Wassers. Es folgen drei Liegestützen unter Wasser mit Blick auf den Flussgrund, eine Drehung um 180 Grad und drei Liegestützen mit Blick zum Himmel. In Zeitlupentempo schreitet sie zurück ans Ufer. „Ich danke dem, den ich um Gesundheit gebeten habe. Das Wasser ist lebendig. Es nimmt uns wahr, das habe ich rausgefunden.“

Im Dauerlauf, mit nassen Haaren, ohne Mütze hat Maria die zwei Kilometer zu ihrer Wohnung zurückgelegt. Auf dem Tisch steht ein Topf dampfende Pelmeni und sauer eingelegtes Gemüse. „Wer untertaucht, der muss auch essen“, sagt sie, „und zwar, wer richtig untertaucht“, schiebt sie hinterher. „Mal eben so ins Wasser springen“, sei ja gerade modern. „Diese Sendungen, die jetzt immer im Fernsehen laufen, über die Eistaucher hier und die Winterbader dort, die kann ich wirklich nicht ernst nehmen. Die meisten von ihnen gehen immer dann ins Wasser, wenn sie gerade Lust haben, das sind Amateure, Hobbybader. Für mich ist Baden tägliche Arbeit, eine ganz eigene Weltordnung, das ist mein Leben.“

Mystiker aus der Ukraine

Eine Weltordnung, die sich auch in Marias Wohnung materialisiert: Auf dem Balkon hängen, oder besser gesagt, stehen mehrere gefrorene Handtücher: Wenn Marias 95-jährige Mutter zu Besuch ist, muss die sich von Kopf bis Fuß damit abreiben – weil es gesund ist. In den Regalen Bücher von und über Sebastian Kneipp, an den Wänden gerahmte Schwarzweißfotos: Ein Mann mit schlohweißem Bart steht barfuß und nur mit kurzer Hose bekleidet im verschneiten Wald.

Im Alter von 35 Jahren, erklärt Maria, hat sich der ukrainische Mystiker Porfirij Kornejewitsch Iwanow für ein naturverbundenes Leben entschieden. Dazu gehörten stundenlange Barfußwanderungen bei minus 40 Grad. Der Stapel Bücher auf Marias Esstisch zeigt, dass Iwanow auch ein großes weltliches Erbe hinterlassen hat. Maria deutet auf ein loses Blatt Papier. Von einer Freundin hat sie die wichtigsten von Iwanows Gesundheitsgeboten ins Deutsche übersetzen lassen. Zweimal täglich bade in kaltem Naturwasser, damit es dir gutgeht. Bade da, wo du gerade kannst: im Teich, Fluss, Bad. Besiege Geiz, Faulheit, Selbstzufriedenheit, Habgier, Angst, Heuchelei und Hochmut. Traue den Menschen und liebe sie. „Gar nicht so einfach“, sagt Maria.

Aus einem Briefumschlag zieht sie eine ausgeschnittene Zeitungsmeldung. Im November 2009 ist Maria als „74-jährige Nacktbaderin mit originellem Gesundheitsrezept“ auf den Vermischtes-Seiten vieler deutschsprachiger Tageszeitungen aufgetaucht. „Nur weil ich das mache, was ich seit Jahren mache, und irgendjemand plötzlich gefunden hat, dass das seltsam ist.“

Dann erzählt sie, wie sie der Polizei an der Lauter begegnet ist oder besser gesagt die Polizei ihr. „Ich bin gerade aus dem Wasser gekommen, habe mich mit dem Handtuch warmgeschlagen, da klettert plötzlich ein Mann am anderen Ufer den Hang herunter und schreit mir irgendetwas zu. Das Wasser rauscht, ich verstehe gar nichts, und während ich mich blitzschnell anziehe, kommt er über die Brücke zu mir herüber und fragt: Haben Sie einen Ausweis? Das Gleiche habe ich auch den Polizisten gefragt und ihm gesagt, dass das Wasser uns alle einlädt und empfängt, auch ohne Ausweis.“

Maria, die 2001 mit ihrer Familie als Spätaussiedlerin nach Baden-Württemberg kam und sich hier eine neue Existenz geschaffen hat, und die Ukrainerin aus dem Zeitungsartikel, das sind zwei verschiedene Personen.

Die Säure der Chemiefabrik

„Ich war noch nie krank“, zitiert Maria den Zeitungsausschnitt und schüttelt den Kopf „Blödsinn, natürlich war ich krank, und wie!“ In der Ukraine, in ihrer Heimatstadt Tscherkassy, hat Maria schon als junge Frau in einer Chemiefabrik gearbeitet und sich dabei ihre Gesundheit ruiniert. Ihre Hände waren von der Säure offen, und da sie eine Entzündung im Rücken hatte, war ihre linke Körperhälfte ständig taub.

„Ich habe wirklich nach jeden Strohhalm gegriffen“ sagt sie und zählt Fastenkuren auf, Heilansätze von Sebastian Kneipp bis zum Destilliertes-Wasser-Trinken nach Paul Bragg. Dann springt sie auf und zeigt wieder auf ihre Fotogalerie und Porfirij Iwanow, von dem sie zum erstem Mal 1989 gehört hat, auf einer großen Gesundheitskonferenz in Tscherkassy.

„Ich erinnere mich noch genau, es war am 19. März . Die Konferenz ging bis elf Uhr abends, draußen lag überall Schnee, und der Dnjepr war teilweise zugefroren. Trotzdem bin ich noch in der Nacht hingelaufen und hineingesprungen.“ In Tscherkassy hat sich im Laufe der Jahre eine Badeclique gebildet.

In Wendlingen hat Maria keine Clique. Sie würde sich schon über eine einzige Person freuen, die ab und zu mit ihr „untertaucht“. Aber das Interesse von Spaziergängern, die sie inzwischen vom Sehen kennt, reicht über Neugier nicht hinaus. „Sie halten mich für mutig oder verrückt, aber niemand kommt auch nur auf die Idee, mit mir ins Wasser zu gehen.“ Wie eine wirkliche Klage oder Beschwerde klingt das aus Marias Mund nicht. Im Gegenteil, sie findet sogar, dass ihr hier in Wendlingen ein geheimer Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

Nach der Ankunft in Deutschland hatte Maria die schlimmsten Befürchtungen: „Ausgerechnet nach Deutschland! Ich wusste ja, dass man hier nicht überall ins Wasser kann. Und wenn keine Badestelle da ist, kannst du auch nicht wie bei uns in der Ukraine einfach ins Freie gehen und dich mit Wasser übergießen. Deshalb habe ich so gehofft, dass es uns nicht in eine Großstadt verschlägt, nicht ins Stadtzentrum, wo nur Asphalt ist, sondern irgendwo nahe der Natur, wo Erde und Wasser sind. Und meine Bitte wurde erhört.“

Starke Strömung

2001 kam Marias Familie zunächst ins Grenzdurchgangslager Friedland – dort gab es keine Badegelegenheiten – dann lebten sie insgesamt ein knappes Jahr in der Landesaufnahmestelle Empfingen. „Als wir erfahren haben, dass wir nach Stuttgart kommen, hab ich mir nur im Stillen gedacht: Was bitte will ich in Stuttgart? Als sie mir dann vom Neckar erzählt haben, habe ich Hoffnung geschöpft.“

Letztendlich hat Maria mit der Lauter ihre Gewässer gefunden. Ganze dreimal in insgesamt acht Jahren hat sie ihr Baderitual oder, wie sie es nennt, „das Untertauchen“ ausfallen lassen. Als ihre Enkelin geheiratet hat und zweimal bei Hochwasser. Aber selbst da entkam sie dem Sog der Elemente nicht vollständig. „Die Strömung war so stark, dass ich nicht ins Wasser gehen konnte. Aber ich konnte die Luft atmen. Und ich habe mich am Ufer an einem Ast festgehalten und zumindest meinen Kopf eingetaucht. Damals wurde ich auch gefragt, wohin ich bei diesem Wetter gehe, wo das Wasser so matschig ist. Blöde Frage: zum Wasser natürlich. Ich habe gesagt: Das Wasser ist dreckig, aber es lebt. Seine Farbe ist braun, aber in ihm ist die Energie der Erde.“

Katja Huber arbeitet als Radioautorin. Diese Geschichte gibt es auch zu hören unter: www.br-online.de/bayern2/zuendfunk/maria-ende-gelaende-zuendfunk-ID1265134461221.xml