Die Spur der letzten Nazitäter

HOLOCAUST Sie sichten Dokumente, analysieren Unterschriften – und rekonstruieren das Grauen. Auch 65 Jahre nach Kriegsende geben einige Ermittler nicht auf. Nun wurden sie erneut fündig

John Kalymon, 89, lebt in den USA und ist gebürtiger Ukrainer. Ihm wird vorgeworfen, als Polizist im deutsch besetzten Lemberg mindestens einen Juden ermordet zu haben. Die USA haben ihm seine US-Staatsbürgerschaft entzogen.

Samuel K., 89, ist pensionierter Bundesbediensteter und lebt bei Bonn. Arbeitete 1943/43 als „Hilfswilliger“ im Vernichtungslager Belzec. Möglicher Tatvorwurf: Beihilfe zum Mord in mehreren hunderttausend Fällen sowie Mord aus niedrigen Beweggründen in zehn Fällen.

John Iwan Demjanjuk, 89, sitzt in München in Haft. Er steht derzeit wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen in München vor Gericht. Der gebürtige Ukrainer und ausgebürgerte US-Amerikaner soll im Lager Sobibor als „hilfswilliger“ Ausländer am Judenmord beteiligt gewesen sein.

VON KLAUS HILLENBRAND

Das Dokument lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Ich, Iv Kalymun vom 5. Kommissariat der ukrainischen Polizei, habe dienstlich während der Judenaktion am 14. 8. 1942 um 19 Uhr die Waffe eingesetzt und 4 Stück Munition verwendet, wobei ich eine Person verletzt und eine getötet habe.“ Es ist diese handschriftliche Notiz aus dem deutsch besetzten Lemberg, die John Kalymon 68 Jahre später zum Verhängnis werden könnte. Der 89-jährige frühere Ukrainer lebt heute in Troy im US-Bundesstaat Michigan. 1949 kam er aus Deutschland in die Vereinigten Staaten. Sechs Jahre später erhielt er die US-Staatsbürgerschaft, wurde Arbeiter bei Chrysler. Erstaunlich jung sieht der Rentner mit seinen ergrautem vollen Haar auf Fotos aus.

Aber ist Iv Kalymun identisch mit John Kalymon?

Er gibt zu, dass er einst ein ukrainischer Polizist war. Er habe diese Tätigkeit verschwiegen, weil er Angst gehabt habe, sonst in die Sowjetunion geschickt zu werden, rechtfertigt sich der Kalymon aus Troy heute. Zwar habe er als junger Mann seinen Namen bisweilen auch „Kalymun“ geschrieben, aber nicht in seiner Zeit als Polizist. Niemals habe er einen Menschen getötet. Er greint: „Sie wollen mich, einen alten Mann, ausweisen. Ich war nie in Haft und habe immer meine Steuern bezahlt. Ich kenne niemanden, der so ehrenhaft ist wie ich.“

Doch da ist diese Notiz mit der Unterschrift Kalymuns. Und da sind Sonderermittler und Staatsanwälte in den USA und Deutschland. Sie reisen in die jahrzehntelang verschlossen gewesenen Archive Osteuropas, immer auf der Suche nach beweiskräftigen Dokumenten. Sie wühlen sich durch verstaubte Aktenberge, lassen Übersetzungen anfertigen. Im Fall Kalymon geht es darum, durch Schriftvergleiche nachzuweisen, dass Kalymun und Kalymon ein und dieselbe Person sind.

Sie sind bei dieser Identitätsprüfung schon ziemlich weit gekommen. Derzeit prüfen Schriftsachverständige eines deutschen Landeskriminalamts die Authentizität der Unterschrift.

John Kalymon ist einer von zwei mutmaßlichen NS-Kriegsverbrechern, bei denen derzeit entschieden wird, ob es zum Prozess kommt. Dazu kommen Dutzende Vorermittlungen: Allein bei der Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen in Dortmund sind etwa zehn Verfahren anhängig, sagt Staatsanwalt Andreas Brendel. Kurt Schrimm, Chef der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, spricht von rund zwanzig Fällen bei seiner Behörde.

Schrimm, ein Nachkriegskind Jahrgang 1949, arbeitet in einer Trutzburg mit hohen Mauern. Die zentrale deutsche Behörde zur Ermittlung von NS-Straftätern ist im barocken Ludwigsburg ausgerechnet im ehemaligen Frauengefängnis untergebracht. Seit ihrer Gründung im Jahre 1958 hat sie 1,66 Millionen Karteikarten angehäuft, davon rund 692.000 mit den Namen von Tatverdächtigen und Zeugen. Sie hat über 7.300 Ermittlungsverfahren gegen mehr als 110.000 Verdächtige eingeleitet. Etwa 6.500 Frauen und Männer wurden verurteilt.

Und heute, 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs?

Die Frage hat sich wieder gestellt, seit John Iwan Demjanjuk in München vor Gericht steht. Ihm wird vor Gericht Beihilfe zum Mord an mindestens 27.900 Juden im Vernichtungslager Sobibor vorgeworfen, und als der Prozess im November begann, hieß es wieder einmal in der Öffentlichkeit, dies könnte der letzte große NS-Kriegsverbrecherprozess in Deutschland sein. Eine kühne Behauptung, über die die Ermittler nur den Kopf schütteln können. „Mord verjährt nicht“, sagt Kurt Schrimm. Die Meldungen seien „sehr voreilig“.

Schrimm und seine Kollegen arbeiten unverdrossen weiter. „Wir haben noch einiges vor – in diesem Jahr und in den nächsten. Da sind sehr erfolgversprechende Ansätze dabei“, sagt der Oberstaatsanwalt.

Als Iv Kalymun am 14. August 1942 seine Notiz über den Munitionsverbrauch unterzeichnete, war die Räumung der jüdischen Viertel von Lemberg – heute in der Ukraine und damals im deutsch besetzten „Generalgouvernement“ gelegen – seit vier Tagen in vollem Gange. Die Menschen wurden unter Einsatz brutalster Gewalt in verschiedene Sammelstellen getrieben, in Güterwagen gepresst und deportiert. Wer versuchte, sich zu verbergen, wurde erschossen. Die ukrainischen und die deutschen Polizisten riegelten gemeinsam die Straßen des Ghettos ab. Zug um Zug trieben sie die Juden zusammen. Im Lauf von nur einer Woche registrierte die ukrainische Polizei bis zum 22. August 1942 31.860 deportierte Opfer. Und allein das 5. Kommissariat, dem Kalymun angehörte, meldete in dieser einen Woche, 8.000 Juden verhaftet und 49 getötet zu haben. Der Historiker Dieter Pohl bezeichnet den Einsatz der ukrainischen Hilfspolizei in Lemberg in seinem Standardwerk über die nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien als „entscheidend“ für den Erfolg der Razzien.

Der Augenzeuge D. berichtete: „Sie riegeln die Straße mit einer Kette von Leuten ab, so dass nicht einmal eine Katze unbemerkt durchkommen würde. Zehn und mehr von den Gestapomännern und der ukrainischen Polizei gehen in jedes Haus und nehmen jeden jüdischen Bewohner mit. Es spielen sich schreckliche Dinge ab, den Müttern nehmen sie die kleinen Kinder weg und ermorden sie vor den Augen der Mütter.“

Ludwigsburg hat den Fall Kalymon abgeschlossen und an die zuständige Behörde weitergegeben – an den Ort, wo der Verdächtige zuletzt in Deutschland gemeldet war. Jetzt prüft die Staatsanwaltschaft München I, ob gegen John Kalymon hinreichender Tatverdacht besteht. Am Ende könnte schließlich eine Anklage stehen – ein zweiter Fall Demjanjuk.

Doch dazu müsste Kalymon zunächst einmal von Amerika nach Deutschland abgeschoben werden. Und in diesem Moment verlässt der Fall die Schreibtische der Staatsanwaltschaften und gelangt in die hohe Politik. Denn das Auswärtige Amt muss einer Aufnahme in die Bundesrepublik zustimmen. Das, sagt ein Sprecher, geschehe „nur bei Interesse an der Strafverfolgung“. Will heißen: Es muss eine hinreichende Prognose einer Staatsanwaltschaft vorliegen, dass ausreichende Verdachtsmomente für eine Verurteilung bestehen. Denn andernfalls bestünde die Gefahr, dass der Betroffene seinen Lebensabend in einem bundesdeutschen Altersheim verbringt, ausgestattet mit deutscher Sozialhilfe. Deutschland wolle alles, nur kein safe haven für NS-Kriegsverbrecher werden, sagt der Sprecher des Außenministeriums. Im Fall Kalymon glaubt Kurt Schrimm, das Problem lösen zu können. Schon bei Demjanjuk habe sich das Auswärtige Amt sehr kooperativ gezeigt. „Dort gab es nicht den geringsten Widerstand“, sagt er.

Begonnen hat das Ermittlungsverfahren gegen John Kalymon nicht in Deutschland, sondern in den USA. In Washington ist das Office of Special Investigations (OSI), eine Sonderbehörde des Justizministeriums, damit betraut, nach NS-Kriegsverbrechern zu suchen, die sich unter falschen Angaben die US-Staatsbürgerschaft erschlichen haben. Das geschah bis in die Fünfzigerjahren vermutlich viele tausend Mal. Getarnt als osteuropäische Vertriebene, gelang ihnen aus Aufnahmelagern in Deutschland der Sprung in die amerikanische Freiheit. Sie gründeten Familien, gingen zur Arbeit, lebten in freundlichen Einfamilienwohnungen in der Provinz oder in engen Apartments in den Citys – als anständige amerikanische Bürger. Auch wenn das OSI ihre furchtbare Vergangenheit ans Licht bringt, in den USA angeklagt werden können diese Personen deshalb nicht. Denn dort dürfen nur Straftaten verfolgt werden, die entweder in den USA begangen wurden oder deren Opfer Amerikaner waren.

Der erschwindelte Pass des Nazikollaborateurs

Was das OSI aber sehr wohl kann: den älteren Herrschaften mithilfe der Gerichte die US-Staatsbürgerschaft aberkennen und sie als unerwünschte Ausländer abschieben. „Mit der aktiven Unterstützung von Kollaborateuren wie John Kalymon ermordeten die Nazis etwa 100.000 unschuldige Männer, Frauen und Kinder aus Lemberg“, sagt OSI-Direktor Eli Rosenbaum. Im Jahr 2007 entzog ein Gericht in Detroit Kalymon die US-Staatsbürgerschaft. Daheim in Troy, Michigan wartet er auf seine Ausweisung. Einer von inzwischen einhundertsieben Fällen.

Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg kooperiert eng mit dem OSI. „Die Zusammenarbeit ist seit sechs Jahren eng, sehr vertrauensvoll und letztendlich auch fruchtbar“, sagt Kurt Schrimm. „Dort werden uns die Akten vorgelegt. Dann beginnen wir mit unseren Ermittlungen.“ Doch nur in einem einzigen Fall folgte aus den OSI-Ermittlungsergebnissen bisher auch eine Anklage in der Bundesrepublik: bei John Iwan Demjanjuk. Für eine Ausweisung aus den USA genügt der Nachweis der Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen. Damit ein Prozess in Deutschland geführt werden kann, muss dagegen Mord nachgewiesen werden. Alle anderen Straftatbestände sind verjährt.

Demnächst steht wieder ein Fall aus den USA in Ludwigsburg zur Entscheidung an. „Eine heikle Geschichte“, sagt Schrimm dazu nur. Auch die Ermittlungen zu einem weiteren Fall, den er aufgetan hat, sind weit. Es ist die Geschichte des Samuel K., die sich im polnischen Belzec abspielte.

Die Todesfabrik im polnischen Belzec

Alle zwei bis drei Tage verließ im August 1942 ein Güterzug voller Menschen Lemberg in Richtung Westen. Insgesamt, so rekonstruierten Historiker, waren es sechs bis neun Transporte. Die Juden von Lemberg erreichten bald darauf das Vernichtungslager Belzec im deutsch besetzten Polen. Etwa 250 mal 200 bis 250 Meter, mit Stacheldraht abgesperrt: eine Todesfabrik. Die den Zügen entstiegenen Juden kamen zunächst in den Lagerbereich I. Dort hielt der Chef von Belzec, SS-Hauptsturmführer Christian Wirth, bisweilen eine aufmunternde Ansprache, in der er die Menschen herzlich begrüßte und sie bat, aus hygienischen Gründen zunächst ein Bad zu nehmen. Manche Neuankömmlinge, die glaubten, dem Grauen in den Ghettos endlich entkommen zu sein, klatschten vor Freude. In Baracken, getrennt nach Männern und Frauen mit ihren Kindern, mussten sich die Juden dann ausziehen. Den Frauen wurde das Haupthaar geschoren. Sie gaben ihre Wertsachen an speziellen Schaltern ab, man versicherte ihnen, sie würden sie zurückzuerhalten. Dann ging es durch einen engen Gang in den Lagerbereich II zu einem Betongebäude. Am Eingang stand „Bade- und Inhalationsraum“ geschrieben.

Die sechs Kammern maßen jeweils vier mal fünf Meter. Die Türen konnten luftdicht verschlossen werden. Über ein Röhrensystem wurden die Abgase eines Lkw-Dieselmotors in die Kammern geleitet. Die Menschen starben nach fünfzehn bis zwanzig Minuten. Durch ein Guckloch an der Tür konnten die Wachmänner verfolgen, ob ihre Opfer tot waren. Wohl jeder habe einmal dort hindurchgeschaut, sagte später einer der Täter aus.

Einer der Männer heißt Samuel K., ist 89 Jahre alt und wohnt in einem Haus am Rande eines Dorfs bei Bonn. Bei gutem Wetter geht der Blick weit über den Rhein. Der Pensionär arbeitete viele Jahre als Beamter im Bundesbauministerium. Jetzt, nach 68 Jahren, droht ihn seine Vergangenheit einzuholen. Denn Samuel K. ist neben Kalymon der zweite mutmaßliche Nazi-Kriegsverbrecher, bei dem die Staatsanwaltschaft derzeit die Eröffnung eines Prozesses prüft.

K. wurde in Sichelberg an der Wolga geboren. Während des Russlandfeldzugs nahm die Wehrmacht den damals Zwanzigjährigen gefangen. Vor die Wahl gestellt, im Kriegsgefangenenlager Chelm unter grauenhaften Bedingungen dahinzuvegetieren oder mit den Nazis zu kooperieren, entschied sich K. für Letzteres. Wie Demjanjuk bildete die SS auch ihn im Lager Trawniki im besetzten Polen zum Wachmann aus. Die insgesamt etwa 5.000 Wachmänner wurden bei der Räumung jüdischer Ghettos in Polen eingesetzt, bewachten Zwangsarbeiter oder taten Dienst in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Sie waren die Handlanger.

K. hat eingeräumt, um die Jahreswende 1941/42 als „Hilfswilliger“ nach Belzec gekommen zu sein. Der Wolgadeutsche stieg in der Lagerhierarchie auf und wurde zum Zugführer ernannt. Das erhöhte seinen Lohn von 50 Pfennig pro Tag bei freier Kost und Logis ein wenig. Er blieb offenbar bis zur Lagerauflösung 1943. Da war Belzec für die Nazis überflüssig geworden, denn fast alle Juden des „Generalgouvernements“, insgesamt etwa 1,8 Millionen Menschen, waren tot. Allein in Belzec starb fast eine halbe Million.

Samuel K. aber erlebte das Kriegsende, beantragte die deutsche Staatsbürgerschaft, erhielt diese, ließ sich im Rheinland nieder und wurde, so recherchierte der Spiegel, Hauptamtsgehilfe und Amtsmeister. Eine deutsche Karriere.

Um auf K. zu kommen, musste die Zentrale Stelle nicht mit dem OSI in Washington kooperieren. Es reichte ein Blick in die eigenen Akten. Denn Ludwigsburg ist nicht nur die Behörde für Ermittlungen gegen NS-Verbrecher, sondern auch eine Außenstelle des Bundesarchivs. Hier werden all die Akten und Urteile der vergangenen Jahrzehnte sorgfältig verwahrt. Historiker sitzen im kleinen Lesesaal im ersten Stock an weißen Tischen, blättern vergilbte Papierstöße durch und machen sich Notizen.

Tausende Demjanjuks und K.s blieben unbehelligt

Nun ist es aber so: Mehrfach trat Samuel K. nach dem Krieg in NS-Ermittlungen als Zeuge auf, zuerst schon in den Sechzigerjahren. Er bekannte sich freimütig zu seinem Einsatz in Belzec, berichtete davon, wie die Leichen vergaster Juden in Gruben verscharrt wurden, vom Gestank, vom Massenmord. Er selbst will allerdings niemals Menschen getötet haben.

Doch die bundesdeutsche Justiz interessierte sich nicht für K. Nur die Haupttäter sollten verurteilt werden, und diese durften damals oftmals mit erstaunlich milden Strafen rechnen. So erhielt SS-Oberscharführer Josef Oberhauser, der in Belzec an den Massenmorden beteiligt war, im Jahre 1965 wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 300.000 Fällen und wegen fünf weiterer Verbrechen der Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in je 150 Fällen“ lediglich eine Zuchthausstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. All die tausende K.s und Demjanjuks blieben unbehelligt. Bis heute.

Inzwischen hat sich die Rechtsauffassung geändert. Mord ist Mord, egal ob ihn ein verantwortlicher SS-Mann begangen hat oder ein „hilfswilliger“ Ausländer in deutschen Diensten, lautet die Überzeugung. So kam im Zuge der Ermittlungen gegen Demjanjuk der Name K. wieder zum Vorschein.

Im Münchner Demjanjuk-Prozess geht die Anklage davon aus, dass alle Helfer in Sobibor, gleich ob SS-Männer oder „fremdvölkische Hilfswillige“ wie Demjanjuk, zwangsläufig an der Judenvernichtung beteiligt waren. Es bedürfe deshalb keines individuell belegten Mordvorwurfs. Der jüdische Sobibor-Überlebende Thomas Blatt erinnert sich, dass die ausländischen Helfer die Menschen in die Gaskammern trieben und Widerstrebende, Alte, Kranke und Kinder niederschossen. „Die Ukrainer erledigten die Drecksarbeit. Sie waren noch brutaler als die Deutschen“, sagt er.

Dem braven Amtsmeister droht der Prozess

Sobibor aber zählte neben Treblinka und Belzec zu den drei Vernichtungslagern, die 1941/42 im besetzten Polen parallel errichtet und sehr ähnlich betrieben wurden. Ihre Aufgabe bestand darin, im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ die jüdische Bevölkerung Polens vollständig zu ermorden. Nur wenige SS-Männer waren dort im Einsatz, oft nur zwei oder drei Dutzend. Das Gros von jeweils über einhundert bildeten die „hilfswilligen“ Schergen.

So könnte Samuel K. schon bald mit einer ähnlichen Anklage wie Demjanjuk rechnen. Ludwigsburg hat das Verfahren abgeschlossen und im Januar an die Staatsanwaltschaft Dortmund abgegeben. Beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ist eine vierköpfige „Ermittlungskommission Argus“ mit nichts anderem als dem Fall K. beschäftigt.

Zudem wiegen weitere Vorwürfe schwer: Andere ehemalige „Hilfswillige“ gaben in früheren Prozessen in der Sowjetunion zu Protokoll, dass K. in zwei Fällen insgesamt zehn Juden eigenhändig erschossen habe.

In Dortmund geht Staatsanwalt Andreas Brendel, Jahrgang 1962, den Vorwürfen nach. Eine Hausdurchsuchung bei K. erbrachte nichts Verwertbares. Man habe gehofft, vielleicht auf alte Fotoalben aus dem Krieg zu stoßen, sagt Brendel. Er wird wohl demnächst selbst nach Belzec reisen, um sich ein Bild zu machen. Er muss überprüfen, ob die Zeugen aus den sowjetischen Prozessen erneut aussagen können. Sollten sie verstorben sein, könnten die sowjetischen Protokolle in einem eventuellen Prozess verlesen werden.

Es wird eng für Samuel K.

Mit der Presse will der Pensionär nicht reden. Voraussichtlich im März wird er als Zeuge im Demjanjuk-Verfahren aussagen. Vorläufig bleibt er in seinem idyllisch gelegenen Haus bei Bonn auf freiem Fuß – „keine Fluchtgefahr“, attestiert Andreas Brendel. Er erwartet, dass noch im ersten Halbjahr 2010 entschieden wird, ob gegen K. Anklage erhoben werden kann.

Samuel K. ist 89 Jahre alt und leidet an diversen Krankheiten. John Iwan Demjanjuk begeht im Krankentrakt des Gefängnisses München-Stadelheim demnächst seinen 90. Geburtstag. Im Prozess macht er einen leidenden Eindruck. Doch in der Haft geht es ihm erstaunlich gut. Einen „fitten Eindruck“ hat der Staatsanwalt Brendel auch von Samuel K. Doch auch wenn es in seinem Fall zum Prozess kommen sollte, lässt sich nicht leugnen, dass die mutmaßlichen NS-Verbrecher langsam, aber sicher aussterben.

Ärztliche Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten gehören längst zum Repertoire von NS-Verfahren. In manchen Verfahren sind die Täter zu gebrechlich für eine Verhandlung. Oder sie sterben, bevor die Staatsanwälte ihre Ermittlungen abgeschlossen haben.

Auf die Suche nach den deutschen Schreibtischtätern müssen sich die Ermittler heute nicht mehr machen. „Wer in der Hierarchie weiter oben stand, war damals meist jenseits der 30 Jahre alt“, sagt Schrimm: „Es ist kaum damit zu rechnen, dass da noch einer aufgefunden wird.“ Kein Wunder: Sie wären heute wenigstens 95 Jahre alt.

Die Ermittler kämpfen heute nicht nur mit Aktenbergen, leugnenden Verdächtigen und dem schwindenden Gedächtnis der letzten Augenzeugen, sondern auch gegen die biologische Uhr. Im Fall von John Kalymon und Samuel K. sind sie nahe daran, dieses Rennen zu gewinnen. Spät, aber nicht zu spät.

Klaus Hillenbrand, 52, ist Chef vom Dienst der taz. Im April erscheint sein Buch „Der Ausgetauschte: Die außergewöhnliche Rettung des Israel Sumer Korman“