Genaue Miniaturen

Augenblicke der Begegnung: In „Aus der Ferne“ (Forum) zeichnet Thomas Arslan ein Türkeibild ohne fixe Identität

Es gibt Filmemacher, die sich mit dem Wechsel vom Spiel- zum Dokumentarfilm neu erfinden. Thomas Arslan aber scheint mit „Aus der Ferne“ noch konsequenter seinem bisherigen Konzept zu folgen: wenig erzählen, viel zeigen. Dieses Zeigen war in „Dealer“ oder „Der schöne Tag“ ja bereits Erzählung genug: Wie jemand in Parks oder zwischen Hochhäusern auf Kundschaft wartet; wie man sich ohne festes Ziel im Taxi, in der U-Bahn, auf den Straßen durch die Stadt treiben lassen kann. Wirklichkeit entsteht im Moment ihrer Darstellung, eine andere Wahrheit hinter den Bildern muss sich der Betrachter selbst suchen.

„Filmemachen bedeutet für mich nicht, Ideen zu haben, sondern genau zu sein“, hat der Berliner Regisseur im Interview zu „Aus der Ferne“ gesagt, „das Schwierige ist, vom Gesehenen auszugehen und nicht von etwas Vorgefertigtem.“ Wobei die Erwartungen schnell bei der Hand sind. Arslans Film ist die Dokumentation einer Reise, die er im Mai und Juni 2005 durch die Türkei unternommen hat. Sein Vater stammt aus Ankara, er selbst ist als Kind dort Ende der Sechzigerjahre zur Schule gegangen – wer würde da vermuten, dass „Aus der Ferne“ sich nicht mit der Suche nach Identität beschäftigt?

Doch der Titel ist ernst gemeint. Tatsächlich sieht man keinen biografisch befrachteten Werdegang zwischen den Kulturen, sondern sehr klare und detaillierte Beobachtungen aus eben jener Ferne, in die Arslan den Betrachter mitnimmt. Es sind ruhige, konzentrierte Alltagsminiaturen, ohne Sozialtouch und ohne Sentiment. In Istanbul blickt man mit der Kamera in engwinkelige Gassen oder aus dem Hotelfenster auf das Dächernetz der Stadt, in Ankara macht man sich wie alle anderen Touristen auf den Weg zum Atatürk-Mausoleum. Nie werden die Motive, die Arslan findet, zum spezifisch türkischen Leitbild: Ob Zugreisende am Bahnhof oder Fans im Fussballstadion – überall erkennt man das zufällige Menschengemenge einer Metropole von Welt.

Sobald er weiter nach Osten, über Diyarbakir und Van bis ins nahe der iranischen Grenze gelegene Dogubayazit vordringt, gewinnen die Landschaften und Städte dagegen aus der Besonderheit von Details an Konturen. Denn Reisen heißt immer auch: weg vom Ganzen, hin zu den Phänomenen.

Im Bus heftet sich Arslan an einen Jungen, der Tickets verkauft und unverwandt, manchmal fordernd in die Kamera schaut. Daraus wird, als Geschichte: eine für kurze Augenblicke intensivierte Begegnung. Später ist dem Kommentar aus dem Off zu entnehmen, dass in dieser Gegend 90 Prozent der Bevölkerung kurdisch sind, ohne dass die üblichen Rückschlüsse auf ethnische Konflikte gezogen werden, die Reportagen so oft Orientierung geben und doch bloß unerträglich belehrend machen. Es reicht, wenn man einer Gruppe von Frauen beim Volkstanz zusieht, die sich angetrieben von Oriental-Techno drehen, das muss als Ausweis kultureller Gemeinschaft genügen. Letztlich hat die Türkei, die „Aus der Ferne“ zeigt, keine fixe Identität, sie ist eine Ansammlung aus voneinander unabhängigen Zugehörigkeiten. Dass Arslan diesen Schluss zulässt, ist faszinierend, politisch und künstlerisch präzise zugleich. HARALD FRICKE

„Aus der Ferne“. Regie: Thomas Arslan. Deutschland, 89 Min. 13. 2., 19 Uhr, Delphi Filmpalast; 15. 2., 10 Uhr, CinemaxX; 16. 2., 17.30 Uhr, Arsenal 1; 17. 2., 19 Uhr, CineStar 8