„Ich sehne mich nach dir, Jude“

KUNST Mit seinen Graffiti-Botschaften verstört Rafal Betlejewski derzeit viele Polen. Ist der Satz, den der Aktionskünstler an Hauswände und Mauern sprüht, antisemitisch – oder eine Form der Erinnerungskultur, die endlich auch Widerhall findet?

■  Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Polen rund, 3,5 Millionen Juden, mehr als in jedem anderen Land Europas. Den Krieg überlebten vor allem diejenigen, denen es gelang, 1939 in die Sowjetunion zu fliehen oder die von Stalin aus dem besetzten Polen nach Sibirien deportiert wurden. 1945 trieb eine Pogromwelle Zehntausende von Rückkehrern und Holocaust-Überlebenden aus Polen in den Westen.

■  Im Jahr 1968 verließen noch einmal rund 30.000 Juden das Land, nachdem die kommunistische Partei in einer antisemitischen Hetzkampagne „die Zionisten“ für das Desaster der Planwirtschaft Polens verantwortlich gemacht hatte. Heute leben in Polen noch rund 10.000 Juden.

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Unübersehbar groß prangen die schwarzen Lettern an der Warschauer Hauswand: „Tęsknię za Tobą, Żydzie!“ Manche Passanten verlangsamen ihren Schritt, bleiben stehen, sichtbar irritiert, und drehen sich Rat suchend um. „Ich sehne mich nach dir, Jude!“ Kommt jemand den Weg entlang, deuten sie auf die Graffiti: „Ist das antisemitisch oder nicht?“

In ganz Polen steht dieser Satz plötzlich an Hauswänden und Mauern. Dort, wo normalerweise antisemitische Parolen prangen wie „Hau ab, Jude!“, „Ab ins Gas, Jude!“ oder „An den Galgen, Jude!“. An diese Schmierereien haben sich die meisten Polen schon gewöhnt, auch an die hässlich hingesprühten Davidsterne oder Galgen. Gleichgültig gehen sie an ihnen vorbei. Der Satz „Ich sehne mich nach dir, Jude!“ ist neu und zunächst einmal verstörend: Wie kann sich jemand nach Juden sehnen, die die anderen Sprayer sonst an den Galgen wünschen?

Witze und Holocaust

Rafał Betlejewski ist Aktionskünstler. Der 41-Jährige kann sich nicht erinnern, in seiner Kindheit oder Jugend je einen Juden gesehen oder von Juden gehört zu haben. Selbst auf dem obligatorischen Schulausflug nach Auschwitz war ihm nur von Polen als Nazi-Opfern erzählt worden. „Wir verbinden das Wort ‚Jude‘ fast ausschließlich mit den antisemitischen Straßengraffiti“, erzählt er. Außerdem mit antisemitischen Witzen und der festen Überzeugung, dass „die Juden“ zu viel Einfluss in den Medien hätten und ständig über den Holocaust jammerten.

Mit der Zeit habe ‚Jude‘ eine so negative Konnotation in Polen angenommen, dass sich kaum noch jemand traue, das Wort auch nur auszusprechen. Schließlich wolle man nicht als Antisemit gelten. Aber das sei natürlich Unsinn. Man dürfe den Antisemiten nicht das Feld überlassen. „So habe ich mich entschlossen, diese Angst vor dem Aussprechen des Worts ‚Jude‘ zu überwinden“, erläutert Betlejewski seine Aktion.

Während viele ratlos vor den Graffiti stehen und nicht wissen, wie der hingesprühte Satz „Ich sehne mich nach dir, Jude!“ zu verstehen ist, melden sich immer mehr Polen bei Betlejewski, um sich neben einem leeren Stuhl fotografieren zu lassen. Manchmal liegen auf dem Stuhl ein weißes Lammfell und eine schwarze Kippa. So ließ sich der Künstler selbst vor mehreren Häusern fotografieren, in denen vor dem Krieg Juden lebten. Wären sie noch da, könnte man mit ihnen am Feierabend ein Schwätzchen halten.

Betlejewski sitzt da, die Beine übereinandergeschlagen, doch der Stuhl neben ihm ist leer – bis auf die Kippa auf dem weichen weißen Lammfell. Vielleicht kommt noch jemand, vielleicht auch nicht. Unter dem Foto steht im Stil der Mauergraffiti der Satz: „Ich sehne mich nach dir, Jude!“ Auf der Website www.tesknie.com, die am ersten Tag der Aktion noch ziemlich leer wirkte, hinterlassen immer mehr Polen ihre Fotos und persönlichen Erinnerungen an Juden aus der Nachbarschaft.

„Betlejewski geht ein großes Risiko ein“, lobt Piotr Kadlčik, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes in Polen, den Aktionskünstler. „Es gehört Mut dazu, den Kampf mit dem Straßenantisemitismus aufzunehmen.“ Auf die Idee selbst musste erst einmal jemand kommen. „Diese Aktion spricht auch Leute an, die in kein Museum gehen, die keine Bücher und keine Zeitungen lesen. Und das sind in Polen sehr viele Menschen.“

Bella Szwarcman von der jüdischen Kulturzeitschrift Midrasz hingegen ist skeptisch: „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich selbst würde ‚Ich vermisse Dich, Jude!‘ natürlich nie sagen. Allerdings würde ich auch ‚Ich vermisse dich, Pole!‘ oder ‚Ich vermisse dich, Katholik!‘ nicht sagen. Mir sind solche Sätze sehr fremd.“ Dennoch hält auch sie dem Künstler zugute, das Wort ‚Jude!‘ – mit Ausrufezeichen – aus der antisemitischen Schmuddelecke holen zu wollen. „Ob Straßengraffiti der richtige Weg ist, weiß ich nicht. Man muss abwarten, ob sich die Antisemiten einfach so ihre Wände und Mauern wegnehmen lassen.“

Rafał Betlejewski ist nicht der erste Künstler, der an das einst pulsierende jüdische Leben in Polen zu erinnern versucht. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Polen rund 3,5 Millionen Juden, mehr als in jedem anderen Land Europas. Den Krieg überlebten vor allem diejenigen, denen es gelang, 1939 in die Sowjetunion zu fliehen, oder die von Stalin aus dem besetzten Polen nach Sibirien deportiert wurden. 1945 trieb eine Pogromwelle Zehntausende von Rückkehrern und Holocaust-Überlebenden aus Polen in den Westen.

1968 verließen noch einmal rund 30.000 Juden das Land, nachdem die kommunistische Partei in einer antisemitischen Hetzkampagne „die Zionisten“ für das Desaster der Planwirtschaft Polens verantwortlich gemacht hatte. Heute leben in Polen noch rund 10.000 Juden.

Mit dem Wendejahr 1989 verschwand die kommunistische Zensur, die jüdischen Themen bis dahin nur ein Nischendasein zugestanden hatte. „Jüdische Festivals“ sprossen aus dem Boden, in Krakau wurden alte Synagogen restauriert und lebensgroße Pappjuden darin aufgestellt – mit aufgemalten langen Bärten und Schläfenlocken, schwarzen Kaftanen und breiten Pelzmützen.

Doch es dauerte noch Jahre, bis den Polen klar wurde, dass diese pittoresk aussehenden Anatevka-Juden aus dem Romanwerk Scholem Alejchems nicht viel mit den in Polen lebenden Juden zu tun hatten. Nur langsam dringt ins Bewusstsein, dass mit den drei Millionen ermordeten Juden auch die Erinnerung an sie verschwunden ist. Geblieben ist eine große Leere.

Die erste Polin, die ihrer Trauer über den Verlust Ausdruck verlieh, war die Regisseurin Joanna Dylewska. In Filmarchiven fand sie Amateuraufnahmen aus den polnisch-jüdischen Schtetln der Vorkriegszeit Polens. Dylewska sammelte die Aufnahmen, fuhr in die früheren Schtetl und fragte die dort wohnenden Polen, wie es sich heute dort lebt – ohne die jüdischen Nachbarn.

„Jude“ habe eine so negative Konnotation, dass sich kaum noch jemand traue, das Wort auszusprechen

Ebenfalls Ende 2008 stand der Linksintellektuelle Sławomir Sierakowski allein im unkrautüberwachsenen Nationalstadion Polens in Warschau und brüllte in den Wind: „Kommt zurück!, Landsleute! Ihr drei Millionen Juden! Wir brauchen euch hier!“. Die israelische Künstlerin Yael Bartana drehte die Szene und spann die Geschichte ein Jahr später weiter. Polen mit „jüdischem Aussehen“ sollten sich bei der Künstlerin melden, um mitten in Warschau einen Kibbuz für die zurückkehrenden Juden zu bauen.

Das Echo auf die Aktion war allerdings verhalten. Der Wachturm im Kibbuz rief nicht die gewünschte Assoziation an ein neues jüdisches Leben in Polen hervor, sondern an die Wachtürme in den KZs von Auschwitz und Majdanek.

Wenig anfangen konnten die meisten Warschauer Anfang des Jahres auch mit den silbrig glänzenden Ballons in der Chlodna-Straße. Was sollten die zwei Halbmonde und die drei kleinen Kugeln bedeuten? Sollte hier eine neue Diskothek eröffnet werden? Oder handelte es sich um die Einladung in einen neuen Nachtklub? Dass die Künstlerinnen an Juden erinnern wollten, wussten nur Eingeweihte. Die Silberballons standen für in Klammern gesetzte Auslassungspunkte. Während der Nazi-Okkupation hatten an dieser Stelle in der Chlodna-Straße Juden über eine Holzbrücke vom kleinen Ghetto ins große gehen müssen. Doch viele Warschauer wissen das nicht mehr. Über die Jahrzehnte hat die Zensur ganze Arbeit geleistet. Fast nichts erinnert daran, dass Warschau mit über 300.000 jüdischen Einwohnern einmal die Hauptstadt des Weltjudentums und der jüdischen Kultur war.

Kaum Mahnmale

Es gibt kaum Gedenktafeln, keine Stolpersteine und neben einem großen Denkmal für den Ghettoaufstand von 1943 nur ein paar kleine Mahnmale. In der Erinnerung der meisten Polen ist Warschau die Stadt des polnischen Martyriums, in der während des Warschauer Aufstands 1944 rund 200.000 Polen ums Leben kamen.

Die bisherigen Kunstaktionen, die an das einst pulsierende jüdische Leben in Polen erinnern und auch Trauer hervorrufen sollten, liefen meist ins Leere, da es im Gedächtnis der meisten Polen keinerlei Anknüpfungspunkte mehr gibt. Das Projekt „Ich sehne mich nach dir, Jude!“ mit seiner Mitmachaufforderung mobilisiert zum ersten Mal in ganz Polen Menschen, sich darüber Gedanken zu machen, ob vielleicht in dem Ort oder sogar in dem Haus, in dem man wohnt, einmal Juden gelebt haben könnten. Manche lassen sie sich dann mit einem leeren Stuhl fotografieren und stellen das Foto zusammen mit einer kleinen Geschichte ins Internet. In einem Jahr soll die Kunstaktion, die am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar begann, zu Ende sein. Bis dahin wächst die Website von Tag zu Tag weiter: www.tesknie.com