Die enge, weite Welt vor dem Fenster

WESTBERLIN II Der Reisende Knud Kohr hat für die „Basler Zeitung“ seinen Kiez in der City West beobachtet. Der Sammelband „Helden wie ihr“ bündelt die Kolumnen

VON JENS UTHOFF

Der Karl-August-Platz in Charlottenburg wirkt wie ein typischer Dorfplatz. Um eine Kirche, die sich der christlichen Dreifaltigkeit verschrieben hat und folgerichtig Trinitatis-Kirche heißt, gruppieren sich Bäume, Cafés, Kneipen, kleine Straßen. Daran, dass hier noch die „City West“ ist, erinnert nicht viel. Nur die Menschen, die vorbeischlendern – Helle, Dunkle, Arme, Reiche, Schicke, Abgerissene –, weisen darauf hin, dass man sich in einer Großstadt befindet.

An diesem Kirchplatz mit den ruhigen, wenig befahrenen Nebenstraßen ist der Schriftsteller und Drehbuchautor Knud Kohr des Öfteren anzutreffen. Kohr, glatzköpfig, schmaler Statur, einsneunzig groß, wohnt unmittelbar am Platz. Er kann aus seinem Fenster das Kommen und Gehen beobachten. Kohr kennt hier nicht nur viele Leute und fast jeden Meter Straßenpflaster, er hat auch Kolumnen über die Menschen geschrieben, die hier wohnen, arbeiten oder den Platz passieren.

Mit „Helden wie ihr“ veröffentlichte der Verbrecher Verlag diese 70 Kolumnen jüngst in einem Sammelband. Ursprünglich erschienen sie wöchentlich in der Basler Zeitung, die letzte Kolumne Mitte 2012. Nach Reiseerzählungen und einem Roman ist der Kolumnenband Kohrs dritte Buchveröffentlichung im Kreuzberger Verlag. Sehr erfolgreich war der 47-Jährige zudem mit „500 Meter. Trotz Multipler Sklerose um die Welt“ (Rütten & Loening Verlag), in dem er vor drei Jahren den Umgang mit seiner eigenen Krankheit auf Reisen schilderte.

Oft sind es gebrochene Helden, von denen Kohr berichtet, die Kolumnen lesen sich meist wie Kurzporträts seiner Protagonisten, die mit dem Leben, mit ihren Macken und Sorgen zu kämpfen haben. „Es sind zum Teil auch Helden, die böse aufs Leben sind“, sagt Kohr.

Man könnte diese Menschen auch Helden des Alltags nennen. Nur: Niemand von den hier beschriebenen Leuten nimmt sich bewusst vor, Gutes zu tun. Kohrs Protagonisten werden zu Helden durch einen kleinen Handgriff, eine gütige Art oder das Überwinden von Schwächen und Ängsten.

„Größere Helden habe ich hier nicht gefunden, also habe ich mir die kleineren gesucht“, sagt Kohr. Er erklärt weiter: „Meine Kolumnen sind auch eine Erforschung dessen, was Heldentum im Alltag ist.“ So findet Kohr etwa auch „Wesen, (…) die Superhelden sein könnten – wenn ihnen nicht ein entscheidender Fehler unterlaufen wäre“, wie er schreibt. Auch über solche Irrungen und Wendepunkte in Lebenswegen sinniert Kohr in seinen überwiegend sehr gelungenen und unterhaltsamen Kolumnen.

Darin begegnet man etwa einem geläuterten Vollfreak mit Hang zu politischer Kunst im öffentlichen Raum, einem schizophrenen Helden, der sich Marx, Freud und Jung aneignet, oder einem Tandem fahrenden Ehepaar, bei dem der Mann doppelt so schnell in die Pedale tritt wie seine schwächelnde Partnerin.

Oder aber man wird traurig, wenn Kohr einen schwulen älteren Mann porträtiert, der seinen Partner verliert und damit – nach vielen Kämpfen in seinem Leben – letztlich auch den Mut. Der Mann verlässt kaum noch das Haus, trinkt den Kummer fort und ist mittlerweile im betreuten Wohnen gelandet, wie Kohr beim Interview berichtet und damit die im Text begonnene Geschichte weitererzählt.

Als es damals um das Format der Kolumne ging, schlug der langjährige Reisejournalist Kohr vor, sich Orten auf der großen weiten Welt zu widmen. „So etwas haben wir schon“, habe der Redakteur geantwortet. Na dann eben das Gegenteil, habe er sich daraufhin gedacht: „Alles, was ich hier von meinem Fenster aus sehen und beobachten kann.“

Kohr wohnt seit nunmehr zehn Jahren an diesem Platz. Und dem Karl-August-Platz wird dieser Knud Kohr, gebürtiger Cuxhavener, wohl auch vorerst erhalten bleiben. Die kleinen Geschichten, die er geschrieben hat, gehen derweil in realiter weiter.

■ Knud Kohr: „Helden wie ihr“. Verbrecher Verlag, 215 S., 14 Euro. Lesung am Karl-August-Platz: 26. Juni, 20 Uhr. Café-Restaurant Feliz, Pestalozzistr. 84, Charlottenburg