Warten auf Magie

Auf Initiative der C/O-Galerie üben sich 16 Berliner FotoschülerInnen während der Berlinale in Pressefotografie – und sammeln realistische Erfahrungen, unter anderem die, dass es solche und solche Akkreditierungen gibt und man möglicherweise abseits des Roten Teppichs die viel besseren Motive findet

„Zwischen der Atmosphäre abends und nachmittags ist ein Unterschied wie zwischen Berlinale und B-Movie-Festival“

von ANNA-MAREIKE KRAUSE

Während die Fotografen auf seine Begleiterin konzentriert waren, muss der Schauspieler sich einen Moment lang unbeobachtet gefühlt haben, sonst hätte er sich wohl kaum auf dem roten Teppich den Hosenschlitz geschlossen. Aufgefallen ist das wohl nur der jungen Fotoschülerin Sevda Güler, die die Szene mit ihrer Kamera festgehalten hat.

Roter Teppich, das ist geballte Prominenz, die sich ihren Weg durch Blitzlichtgewitter bahnt, eine Stunde für zehn Meter braucht, um alle „Over the shoulder!“-Rufe der Fotografen zu bedienen. Hier kämpfen Fotografen um jeden Millimeter, und alle halten auf das gleiche Motiv. So weit die Routine.

Unter dem Motto „Close up“ hat die Fotogalerie C/O Berlin dieses Jahr erstmals 16 Berliner FotoschülerInnen ausgewählt, die jene Routine noch gar nicht kennen. Auf der Berlinale dürfen sie professionellen Fotojournalismus üben, dafür erhalten sie eine Sonderakkreditierung. Mindestens einmal täglich sind sie vor dem Berlinale-Palast Teil der Meute, sollen Stress und Hektik wie die Profis erleben – und innovativere Bilder abliefern als die erfahrenen Kollegen, Bilder, die den Fokus mehr auf das Geschehen im Hintergrund richten.

Der erste Termin ist am Freitagnachmittag. Von der bombastischen Eröffnungsparty des Vorabends ist nichts zu sehen, nur wenige Fotografen und Kamerateams stehen am roten Teppich, und lediglich eine kleine Traube Schaulustiger hat sich vor dem Berlinale-Palast zusammengefunden. Kein Wunder: Zu sehen gibt es an diesem Nachmittag um kurz nach vier Uhr fast nichts. Wären da nicht die kostümierten Kartenkontrolleure oder die wartenden Limousinen des Berlinale-Fuhrparks, man könnte vergessen, dass hier gerade die 56. Internationalen Filmfestspiele Berlins laufen, bei denen immerhin Hollywood-Prominenz wie Charlize Theron oder George Clooney zu Gast sind.

Davon, dass heute kein einziger echter Promi zu sehen ist, lassen sich die 16 Fotoschüler zunächst nicht beeindrucken. „Es geht mir nicht darum, die gleichen Promi-Bildchen zu machen, die hier jeder schießt“, sagt die 21-Jährige Sevda, eine der jungen FotografInnen. „Ich möchte lieber Momente und Situationen einfangen, die man nicht in jeder Zeitung sieht.“

Eine solche Situation begegnet ihrem Kollegen David von Becker, 23, schon an diesem ersten Tag, als er dem roten Teppich für einen Moment den Rücken zuwendet. Gegenüber hat das ZDF sein Berlinale-Studio aufgebaut, einen grauen Kasten mit Panorama-Fenster. Während gerade Klaus Wowereit über den roten Teppich läuft, knipst David den Schauspieler Moritz Bleibtreu, der hinter der Fensterscheibe geschminkt wird und hin und wieder gelangweilt über die Schulter auf die Leinwand neben dem Kino-Eingang blickt, wo in Endlosschleife die immer gleichen Werbespots laufen. Ein Zufallstreffer, schließlich müssen sich die FotoschülerInnen erst orientieren und dabei mögliche Erwartungen mit der Realität abgleichen.

„Ich hatte mir den roten Teppich viel hektischer vorgestellt“, sagt David später, „mehr Trubel, mehr Stress. Und genau das wollte ich auch gerne erleben.“ Doch die Sonderakkreditierung der FotoschülerInnen gilt lediglich für die recht unbeachteten Filmvorführungen am Nachmittag, zu den wesentlich besser besuchten Abendveranstaltungen haben sie keinen Zutritt.

Auch Sevda ist ein wenig enttäuscht: „Ich hatte, vielleicht ein wenig naiv, diesen Kleinmädchentraum von der schicken, glamourösen Berlinale, wo ich ein wenig hinter die schillernde Fassade gucken kann.“ Hinter der sich aber an diesem Tag für die jungen FotografInnen lange Wartezeit in der Kälte verbirgt und kein einziger „magischer Moment“, wie Sevda es nennt. Solche erhoffen sie sich vom nächsten Tag. Außer dem nachmittäglichen Pflichttermin vor dem Berlinale-Palast steht der Film-Palast am Kurfürstendamm auf dem Programm. Hier wird Isabella Rosselini erwartet, immerhin eine echte Prominente. Nach fast einer Stunde Wartezeit ist David auf einen Plastikstuhl geklettert, schießt von dort aus Selbstporträts und Bilder vom Publikum. Dann geht plötzlich alles ganz schnell: Madame Rosselini kommt an, die Menge fängt an zu schreien, aber weder für die Autogrammjäger noch für die wartende Presse nimmt sie sich Zeit. An der Seite von Berlinale- Chef Dieter Kosslick geht sie zügig an allen vorbei.

Da war er endlich, der Termin, der nach den zwei langweiligen Nachmittagen ein wenig echte Festivalstimmung bei den FotoschülerInnen aufkommen lassen sollte, und nach kaum zwei Minuten war alles wieder vorbei. „Das ging so schnell, ich konnte nur Menschenmassen fotografieren“, sagt Sevda. Der glamouröse Mädchentraum vom Vortag ist schon jetzt geplatzt: „Was wir uns erhofft haben, Action, Stars – dafür haben wir einfach keine Akkreditierung.“

Am dritten Tag der Berlinale hat David keine Lust mehr, auf Action und Stars zu verzichten. Er geht zu der Abendvorstellung zum Berlinale-Palast – nicht in den Pressegraben, dort kommt er nicht rein, er stellt sich zu den Autogrammjägern. „Als Meryl Streep ankam, hatte ich zum ersten Mal richtig das Gefühl, auf der Berlinale zu sein“, erzählt er später. „Zwischen der Atmosphäre abends und der nachmittags ist einfach ein Unterschied wie zwischen Berlinale und irgendeinem B-Movie-Festival.“

Trotz der gedämpften Erwartungen sind beide froh, diese Erfahrungen zu machen. „In den Fotojournalismus reinzuschnuppern ist eine tolle Erfahrung“, sagt David, „auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, das später beruflich zu machen.“ –„Man bekommt ja einen realistischen Eindruck, auch von dem ganzen logistischen Drumherum“, sagt auch Sevda. „Stundenlang warten, und dann kriegt man kein tolles Bild – das ist bestimmt normal in dem Job.“ Und auch, dass man die „magischen Momente“, die Sevda sich so wünscht, eher findet, wenn man auf eigene Faust sucht.

Die Fotoarbeiten der 16 FotoschülerInnen werden vom 19. Februar bis 5. März 2006 im Studio von C/O Berlin ausgestellt