Hoffnungslos allein in Heim

Gewalt, Konflikte, Medikamente, Fesselungen: Jugendakte dokumentiert den Alltag eines Kindes im Heim Feuerbergstraße. Weil Erzieher keine Zeit haben, wird es von Wachleuten betreut

Von KAIJA KUTTER

„Bitte, lieber Herr P., holen sie mich bitte aus der GUF raus“, schreibt Marvin* am 29. Juni 2004 in einem Brief an den für ihn zuständigen Richter. „Ich passe in die GUF nicht rein. Die anderen sind viel größer und stärker als ich. Ich möchte unbedingt nach M. zurück.“ Er werde sich benehmen und bestimmt „keinen Scheiß“ mehr bauen. Den Sozialpädagogen der Jugend-WG in M. habe er „wie einen Vater ins Herz geschlossen“, und die anderen Jungs dort seien wie seine Brüder, mit denen er über alles reden könne.

Die Bitte wurde nicht erhört. Marvin war bereits zwölf Tage in der Geschlossenen Unterbringung Feuerbergstraße (GUF), als er diesen Brief der dortigen Psychologin diktierte. Er hatte, so geht es aus den Auszügen der Akte hervor, die der taz vorliegen, im April 2004 in der WG in M. ein Sofa in Brand gesetzt und war darum in der Kinderpsychiatrie des Wilhelmstifts in Hamburg gelandet, wo er oft ausflippte und deshalb fixiert wurde. Doch die dortigen Ärzte sahen keinen Grund für einen längeren Aufenthalt und empfahlen eine geschlossene Unterbringung.

Notwendige Utensilien zur fachgerechten Fixierung

Allerdings befand die GUF-Psychologin in einem Gutachten, dass die Feuerbergstraße nicht die richtige Einrichtung für den Jungen sei, habe er doch noch „die Bedürfnisse eines Kindes“ und reagiere „vehement auf Begrenzungen“. Auch habe die GUF keine Möglichkeit, einen Jungen „zu fixieren“. Eine Einschätzung, der sich bei einem „Fachgespräch“ über Marvins Zukunft am 9. Juni auch die Ärztin des Wilhelmstifts und die Mitarbeiter des Familieninterventionsteams (FIT) der Sozialbehörde anschlossen.

Trotzdem beantragte das FIT am 15. Juni beim Familiengericht die geschlossene Unterbringung und den „Entzug der elterlichen Sorge“. Man erhoffte sich, dass der Junge mit Hilfe von Psychopharmaka dort doch pädagogisch erreicht werden könne. So empfahlen die Ärzte des Wilhelmstifts neben konsequenter Pädagogik ein Neuroleptikum für die kritische Anfangsphase und Ritalin. Der „Ersatzvater“ in M. wäre bereit gewesen, Marvin wieder in der WG aufzunehmen, lehnte aber ebenso wie die Mutter die Medikamente ab.

Am 17. Juni 2004 kommt Marvin in die GUF, einen Tag später werden „die notwendigen Utensilien zur fachgerechten Fixierung“ angeschafft. Die 243,14 Euro für die Gurte zahlt der städtische Träger selbst, damit die Rechnung „nicht in den Bezirken die Runde macht“. Der Familienrichter erlaubt der GUF, den Jungen zu fixieren und schlägt den Betreuern, sollte Marvins Verhalten es angezeigt erscheinen lassen, folgenden Satz vor: „Die Medikamente sind dir von einem Arzt verschrieben worden. Du wirst fixiert, wenn du dich weigerst, die Medikamente einzunehmen.“

„Ein Wunder: Es war ein Betreuer anwesend“

Marvin wurde oft fixiert, und er schluckte die Medikamente. Er kam mit den anderen Jungen nicht zurecht, wurde nach wenigen Wochen isoliert auf einer leeren Gruppenstation untergebracht. Von dieser Zeit zeugen zahlreiche Einträge in den Dienstbüchern des Securitas-Wachdienstes, die in einem Zitat vom 22. November 2004 gipfeln: „Ein Wunder ist geschehen. Es war ein Betreuer anwesend.“ Die privaten Wachleute hatten Marvin an mindestens 23 Tagen ganz oder fast allein betreut, mit ihm Monopoly, Fußball oder Playstation gespielt, ihn geweckt – auch mal mit Wasser – oder ihn bei den Schul- und Hausaufgaben beaufsichtigt, ihn zu Bett gebracht. Oft eskalieren und entgleiten die Situationen, etwa wenn Marvin „seine Arbeit verweigert“ oder ausrastet (siehe Kasten).

Die fest angestellten Pädagogen haben für Marvin wenig Zeit. Während die Heimleitung bei den monatlichen „Fachgesprächen“ des FIT von einer Beruhigung der Situation durch ein klares pädagogisches Programm spricht, werden die Wachleute nur stundenweise von Honorarkräften unterstützt. „Mitarbeiterwechsel und unsichere Beziehungen in der GUF machen ihm sichtlich zu schaffen“, heißt es am 15. September 2004 im „Pädagogischen Tagebuch“, nachdem Marvins erster Bezugsbetreuer und auch die Psychologin ausgeschieden sind. Als Ersatz kommt ab Oktober Fritz Berg. Dieser äußert sich zuversichtlich: „Mit mir ist er zur Zeit umgänglich. Und ich bekomme ihn bis jetzt immer wieder runter, auch ohne ,Bonbons‘“, schreibt Berg und drängt auf Marvins Reintegration.

Denn Marvin befindet sich seit Mitte Juni in der „Phase 1“, in der er weder telefonieren noch Ausgänge machen darf. Schließlich schafft er am 23. November die „Prüfung für Phase 2“, worauf er „sehr stolz“ sei, wie die Pädagogen notieren. Doch zwei Wochen später wird er wieder zurückgestuft: „Rückfall. Ausraster. Aufgestaute Wut und Enttäuschung, weil trotz Phase 2 nur ein begleiteter Ausgang“, schreibt Berg. „Grund: Personalnot“. Seit Anfang Oktober habe er Marvin in der Hoffnung halten können, im November werde es besser und er sei bei ihm. Berg: „Doch dem ist nicht so. Und ich denke, dass hat einen großen Anteil am Ausmaß des Ausrastens.“

„Nach Spannungen wieder alleine auf ISO“

Am 20. Dezember 2004 soll Marvin wieder fest in eine Gruppe. Berg lobt ihn im Tagebuch und schreibt den bemerkenswerten Satz: „Aus einem Jungen (darf ich verwildert nennen?), der täglich drei bis vier Mal fixiert werden musste und alles und jeden angriff, ist einer geworden, bei dem wir uns jetzt wirklich vorstellen, ihn zu integrieren.“ Nur dauert die Freude nicht lange. Ton und Umgang in der Gruppe würden „rauer“, vor allem Marvin „war Opfer“, schreibt Berg am 25. Dezember. Marvin wolle „nach Spannungen mit den anderen wieder alleine auf ISO“ (Isolationsstation, d. Red.), heißt es in einer undatierten Notiz. Und Ende Januar schreibt eine Erzieherin nach einem missglückten Fluchtversuch Marvins, dieser erfülle Aufträge von zwei älteren Jungen, damit er Anerkennung bekomme. Diese beiden „bedrohen, erpressen und belästigen die anderen sexuell“. Später beschwert sich einer der beiden auch darüber, dass Marvin Dinge erfinde und spricht von Hass: „Der kleine Pisser, wenn der kommt, haue ich ihn.“

Am 27. Januar 2005 findet eine Anhörung bei Gericht statt, mit dem Ergebnis, dass Marvin sechs weitere Monate bleiben soll. Die „gut strukturierte Umgebung“ der GUF sei „sehr hilfreich“, urteilte ein externer Gutachter. Marvin „ist sehr traurig. Mag nicht mehr hier sein. Anhörung und ihr Ergebnis belasten ihn sehr“, schreibt Berg und will „sensibel dran bleiben“.

Doch mit der Zeit wird das so genannte „Phasen-Modell“ der GUF für Marvin zur Tortur. Erst Phase 4 ist die Vorstufe zur Freiheit, Marvin schafft nicht mal Phase 2. Mitte Februar heißt es, er komme erst in Phase 2, wenn er sich eine Woche lang in der Gruppe gut verhalte. Darauf erklärt Marvin, das werde er nicht schaffen. Die Gruppe sei die totale Anstrengung, er könne es absolut nicht aushalten, immer der Kleinste zu sein. Ab März wird Marvin wieder isoliert betreut. Er sage, er sei „scheiße drauf und böse“ zu den Mitarbeitern, weil er nicht wisse, wie er seinen Frust kanalisieren sollte, heißt es in Fritz Bergs letzter Notiz vom 20. März 2005.

Sechs Suizidversuche mit Reinigungsmitteln

Ende April, Berg ist seit sieben Wochen krank, gibt es wieder ein „Fachgespräch“ mit dem FIT, bei dem auch der Heimleiter warnt, dass die Situation eskaliere. Ende Mai kommt der Junge nach einem Suizidversuch ins Wilhelmstift; insgesamt versuchte Marvin sechs Mal, sich mit Reinigungsmitteln das Leben zu nehmen.

Danach bekam der Junge im August nochmals einen Verlängerungsbeschluss für die GUF bis Februar 2006 und wurde wieder sechs Wochen lang isoliert und hauptsächlich von Securitas betreut. Dagegen legte die Verfahrenspflegerin beim Oberverwaltungsgericht Beschwerde ein. Am 23. September 2005 hob dieses den Unterbringungsbeschluss auf.

Seither lebt Marvin wieder bei seiner Mutter.

* Name von der Redaktion geändert