: Der arbeitslose Milizionär
WESTAFRIKA Zweimal floh Bobas L. quer durchs Land, bis er sich der Miliz anschloss. Kurz vor Kriegsende gab er die Waffen ab. Heute schlägt er sich in Freetown durch. Bericht von einem abenteuerlichen Leben
■ Geografie: Mit knapp 6 Millionen Einwohnern könnte Sierra Leone eins der reichsten Länder Westafrikas sein, tatsächlich aber ist es das ärmste. Es besitzt Bodenschätze wie Rutil und Diamanten, Früchte für den Export im Überfluss und reiche Fischbestände.
■ Geschichte: Ursprünglich Ende des 18. Jahrhunderts als englische Kolonie zur Rücksiedlung freigelassener schwarzer Sklaven gegründet. Während der Kolonialzeit wurde das Monopol auf den Abbau von Bodenschätzen an eine Tochter des südafrikanischen Konzerns De Beers gegeben. 1962 wurde das Land unabhängig und bald instabil. 1991 nahm die Guerillabewegung RUF (Revolutionäre Vereinigte Front) in den Diamantengebieten den Kampf gegen die Regierung auf. Als 1992 junge Soldaten putschten, ohne selbst ein stabiles Regime errichten zu können, und die RUF Schützenhilfe aus dem benachbarten Liberia bekam, weitete sich der Krieg schnell aus. Südafrikanische Söldner schlugen die RUF zurück, es gab freie Wahlen, aber der gewählte Präsident Ahmed Tejan Kabbah wurde erneut gestürzt, und der Bürgerkrieg eskalierte weiter, zum Schluss mit Liberia und Nigeria als Paten der beiden einheimischen Kriegsparteien. Eine UN-Intervention und schließlich das militärische Eingreifen Großbritanniens sorgten 2000/01 für die Zerschlagung der RUF. Kabbah wurde 2002 bei Wahlen bestätigt und 2007 abgewählt; heute regiert die Partei APC, deren Einparteienregime das Land in den Bürgerkrieg geführt hatte. (D.J.)
AUS FREETOWN ARNO MEINKEN
Die Sonne versinkt schnell in den afrikanischen Tropen. Kaum erleuchten die letzten Strahlen den Horizont, beginnen Myriaden von Anophelesmücken ihre unerbittliche Jagd. Die Regenzeit beginnt in Sierra Leone, einem Land so groß wie Bayern und mit bis zu 5.000 Millimeter Niederschlag im Jahr einem der regenreichsten Gebiete der Erde. Die hereinbrechende Nacht bringt nur wenig Erleichterung von der Schwüle des Tages für die Bewohner der Hauptstadt Freetown, die sich zwischen langen, weißen Stränden und tiefgrünen Berghängen einer Halbinsel windet. Nur eine leichte Brise vom Atlantik verschafft etwas Kühlung.
Bobas L.* wischt sich den Schweiß von der Stirn und lächelt. Eigentlich hat er nicht viel Grund dazu. Das bisherige Leben des demobilisierten Milizionärs der aufgelösten Civil Defence Force (CDF), der zivilen Verteidigungskräfte, steht beispielhaft für das vieler Bewohner des Landes. Ohne regelmäßiges Einkommen bestreitet er den Daseinskampf für sich und seine Familie täglich neu. Planen kann er kaum, träumen ist Luxus. Allein sein tiefer Glaube und wohl auch ein ausgeprägter Instinkt für Gefahren und Gelegenheiten halfen ihm, die Wirren des langen und unbeschreiblich brutalen Krieges zu überstehen. Die genaue Zahl der Opfer kennt bis heute niemand, so wenig wie Bobas sein exaktes Alter.
Seine Stimme senkt sich, als er von seiner Kindheit in der Provinzstadt Bo im Südosten des Landes erzählt. Sein Vater starb, als er vier Jahre alt war. Seine Mutter, Analphabetin, schickte ihn zu seiner Tante nach Kenema, nahe der Grenze zu Liberia, damit er lesen und schreiben lernte. Später arbeitete er als Automechaniker und Fahrer, wodurch er im Land herumkam. Als Anfang der 1990er-Jahre der Krieg ausbrach, floh er vor den heranrückenden Rebellen der Revolutionary United Front (RUF), der Revolutionären Einheitsfront, Hals über Kopf zurück nach Bo.
Die vermeintlichen Weltverbesserer der RUF entpuppten sich als vom liberianischen Kriegsherrn Charles Taylor finanzierte Büttel, die Waffen im Tausch gegen Diamanten erhielten. Die Stadt Bo war bald ein umkämpfter Ort, und Bobas suchte wie viele Flüchtlinge sein Auskommen in Freetown. Monatelang schlief er im Wagen eines Geschäftsmanns, dem er als Bereitschaftsfahrer diente. Israelische Diamantenschürfer nahmen ihn wegen seiner Ortskenntnisse mit nach Kenema, wo trotz des anhaltenden Krieges weiter nach Edelsteinen gegraben wurde. Ein riskantes Unternehmen, das Bobas beinahe mit dem Leben bezahlt hätte.
Alle haben daran verdient
„Nein, nein“, winkt ein französischer Diplomat ab, „das war kein Bürgerkrieg, nicht einmal ein echter Konflikt, lediglich eine Form anarchischer Gewalt.“ Die Exzesse marodierender Banden hinterließen zigtausende Tote, verstümmelte, verschleppte und missbrauchte Opfer. Spezialität der notorisch berauschten Rebellengruppen, unter ihnen viele Kindersoldaten, war die Amputation von Gliedmaßen. Der Terror traf die Zivilbevölkerung gnadenlos. „Langer oder kurzer Ärmel?“, lautete die sardonische Frage der Schlächter, bevor die Machete niedersauste.
Nicht selten verdienen die Täter von damals ihren Unterhalt heute als Fahrer der unzähligen Sammeltaxis. Ein zu den Ursachen des Krieges befragter Sohn einer alten, einflussreichen Familie zuckt mit den Schultern. „Nur eine Art, Geschäfte zu machen. Regierungssoldaten, Rebellen, Söldner, Einheimische oder Fremde, wer auch immer, alle haben daran verdient.“ Vieles sei hier austauschbar. Er verweist auf die Kommunalwahlen im vergangenen Juli und die Bestechlichkeit der politischen Klasse. Alles und jeder ist käuflich, solange der Preis stimmt.
Und dieses Angebot wird weidlich genutzt: Libanesische Geschäftsleute, westliche Minenkonzerne und immer mehr chinesische Investoren suchen und finden ihren Weg in das afrikanische Eldorado. Beziehungen und Kontakte sind alles, die staatlichen Institutionen äußerst schwach. Seit dem Jahr 2002 offiziell befriedet, haben über zehn Jahre Bürgerkrieg das Land ans untere Ende internationaler Entwicklungsstatistiken zurückgeworfen. Und man kann es sehen, hören und riechen. Öffentliche Stromversorgung und Müllentsorgung existieren praktisch nicht.
Bobas kann seine Erheiterung kaum verbergen, als er von seiner zweiten abenteuerlichen Flucht durchs Land erzählt. Damals, im Jahre 1997, ließen ihn die Diamantenschürfer in Kenema zurück, als eine Koalition von Rebellen und an die Macht geputschten Militärs ihre Schreckensherrschaft über das ganze Land ausdehnte. Ihm blieb ein fahrtüchtiges Gefährt – Objekt der Begierde für jede Kriegspartei. Er trickste abtrünnige Soldaten aus, indem er vorgab, vor Ort zu bleiben, und fuhr dann heimlich davon.
Rum als Motivationsstoff
Auf halber Strecke nach Freetown geriet er in einen Hinterhalt der Rebellen. Man zerrte ihn aus dem Fahrzeug und bedrohte ihn mit vorgehaltener Waffe. „Ein klägliches Schauspiel“, erinnert sich Bobas und lacht, jetzt. Er hatte vorgesorgt. Mimte den Rebellenfreund und zauberte unter dem Sitz versteckte Rumflaschen hervor. Der „Motivationsstoff“ für die chronisch unterversorgten Aufständischen sorgte für Begeisterung, man ließ ihn weiterfahren.
Die Heimtücke der Briganten ist berüchtigt. Ein zweiter Hinterhalt war bereits gelegt. Bobas näherte sich dem Kontrollpunkt, trat geistesgegenwärtig aufs Gaspedal und durchbrach die Absperrung. Mehrere Kugeln durchschlugen das Rückfenster des Geländewagens und verfehlten ihn knapp. Er gelangte nach Freetown, wo er zunächst in einem Depot der Ecowas Monitoring Group (Ecomog), der seit 1997 im Lande operierenden Interventionstruppe der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, Waffen reinigte, bevor er sich schließlich der paramilitärischen Miliz anschloss.
Die Gründe für seine Entscheidung lässt Bobas im Dunkeln. Geld mag eines der Motive gewesen sein. Den Gräueltaten der RUF Einhalt zu gebieten und nicht länger ein untätiges Opfer des Krieges sein zu wollen dürften bei seinem Eintritt in die CDF ebenso eine Rolle gespielt haben.
Dr. Chris Belt* sitzt nachdenklich in seinem alten Sessel. Seine Praxis in einer kleinen Klinik in der Nähe von Downtown, dem quirligen Geschäftszentrum von Freetown, ist spärlich eingerichtet. Die hohe Luftfeuchtigkeit hinterlässt Spuren. Die Metallteile der Untersuchungsliege haben Rost angesetzt. „Wissen Sie“, seufzt er, „wir in Sierra Leone müssen aufhören, uns ständig gegenseitig auszubeuten. Was soll ein kleiner Junge von seinem Vater lernen, der seine Frauen und Kinder aufs Feld schickt und selbst keinen Finger krümmt?“ Der Arzt spricht die traditionellen Strukturen im Hinterland an, in denen die unangefochtene Machtstellung der Stammeshäuptlinge gleichsam zur Leibeigenschaft ihrer Untergebenen führt, gar nicht zu reden vom Einfluss der britischen Kolonialherren, die die Verhältnisse in dem Land bis zu seiner Unabhängigkeit 1961 für sich zu nutzen wussten.
Bobas erzählt von seinen Einsätzen an der Front. Als Fahrer der CDF, die gegründet wurde, um der Lumperei der regulären Armee etwas entgegenzusetzen, versorgte er die Truppen mit Waffen und Munition. Mangels ausreichender Koordination der Angriffe kam es immer wieder zu hohen Verlusten. Er gehörte zu den „Special Forces“, die vornehmlich aus liberianischen Söldnern unter sierra-leonischer Führung bestanden.
Bizarre Aufnahmerituale
Die Aufnahme in die „Kamajors“, eine traditionelle Jägergruppe und spirituelle Geheimgesellschaft, auf die sich die Miliz vornehmlich stützte, lehnte er ab. Das bizarre Aufnahmeritual in eine Einheit, die ihre Kämpfer mit magischen Beschwörungsformeln in den Kampf schickte, wollte er sich ersparen. Die schlechte Ausbildung der Kämpfer und Disziplinmangel führten immer wieder zu schweren Unfällen. Er berichtet, dass einige Kameraden mit den Handgranaten nicht umgehen konnten und sich und andere in die Luft sprengten – und unbeteiligte Zivilisten gleich mit. Er schildert Folterungen des Gegners, die in ihrer Grausamkeit zu abscheulich sind, um sie in Worte zu fassen. Kriegsmüde ließ er sich Anfang 2001 von Truppen der nach Sierra Leone entsandten UN-Mission demobilisieren. Für die Abgabe seiner Waffe erhielt er 100 US-Dollar.
Eine unerschütterliche Persönlichkeit besitzt der Exmilizionär Bobas allemal. Trotz aller Schicksalsschläge und Arbeitslosigkeit hält er seine Familie zusammen. Seine Frau macht eine Ausbildung in der Gesundheitsfürsorge. Auch sie ein Opfer des Krieges, entführt, vergewaltigt und geschwängert von einem der „West Side Boys“, einer der verruchtesten Splittergruppen im Krieg, die von britischen Eliteeinheiten nach ihrer Intervention im Jahr 2000 aufgerieben wurde. Das Kind hat Bobas adoptiert. Es geht zu Schule wie demnächst auch seine leibliche Tochter. Er wirkt zuversichtlich. Er hegt keinen Groll. Auch das ist Afrika.
* Namen von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen