Libanesen erinnern an Hariri-Attentat

Ein Jahr nach der Ermordung des ehemaligen Regierungschefs demonstrieren Hunderttausende im Zentrum von Beirut. Doch die Aufbruchsstimmung aus der Zeit der „Zedernrevolution“ ist verflogen, und das Land ist nach wie vor gespalten

VON KARIM EL-GAWHARY

Die Szene erinnerte an die enthusiastischen Tage der libanesischen Zedernrevolution. Hunderttausende Libanesen versammelten sich gestern unter den rot-weißen Nationalflaggen mit dem Zedernsymbol auf dem Platz der Märtyrer im Zentrum Beiruts, um den Jahrestag der Ermordung des ehemaligen Premiers Rafik Hariri zu begehen. In dem Augenblick, an dem vor einem Jahr eine massive Autobombe den Konvoi Hariris traf, hielten die Menschen eine Schweigeminute ein. Zu hören waren nur Kirchenglocken und die Sirenen der im Hafen von Beirut angedockten Schiffe. „Wir vermissen dich“, hieß es auf Plakaten mit dem Foto Hariris. Die Demonstranten hielten auch Poster mit einem Dutzend anderer libanesischer Politiker und Journalisten hoch, auf die seit der Ermordung Hariris Anschläge verübt worden waren. Die meisten Demonstranten hatten wenig Zweifel, wer hinter den Morden steckt. „Ja zum syrischen Volk, Nein zum syrischen Geheimdienst-Terrorismus!“, riefen sie.

„Ich rufe alle Libanesen zur Einheit auf“, beschwor der Sohn Rafiks, Saad Hariri, die Demonstranten. Seine Rede hielt er geschützt hinter Panzerglas. Doch der Eindruck des libanesischen Schulterschlusses als Erbe Hariris trügt. Auch mit der libanesischen Einheit ist es nicht weit her. Die großen schiitischen Parteien Hisbollah und Amal sowie die Anhänger des Christenführers Michel Aoun waren den Feierlichkeiten ferngeblieben. Diese seien „zu politisiert“, rechtfertigten sie ihre Abwesenheit.

Ein Jahr nach Hariris Tod ist der Libanon so polarisiert wie schon lange nicht mehr. Auf der eine Seite steht das von Saad Hariri angeführte antisyrische Lager, dem Drusenführer Walid Dschumblat und einige christliche Gruppen angehören, auf der anderen das prosyrische Lager mit Hisbollah, Amal und neuerdings Aoun. Trotz der Demokratisierung und dem Ende des direkten syrischen Einflusses nach dem Abzug der Truppen aus dem Nachbarland im vergangenen April besteht die politische Unterteilung des Landes aus den Zeiten des Bürgerkrieges nach Familienclans und Religionszugehörigkeit weiter. Die Hoffnungen der Zedernrevolution auf eine Erneuerung der libanesischen Gesellschaft wurden vielfach enttäuscht. „Unsere hohen Erwartungen wurden nicht erfüllt und das Land ist genauso gespalten wie früher, mit den gleichen religiösen und feudalen Trennlinien“, beschreibt der Student Zahi Schahin die Lage.

Das wurde bereits wenige Wochen nach der Ermordung Hariris bei den Parlamentswahlen deutlich, die zu einem politischen Patt führten. Die Regierung und die staatlichen Institutionen sind angesichts der pro- und antisyrischen Gruppierungen in ihrer Handlungsfähigkeit gelähmt und die einzelnen religiösen Gruppen immer noch ihrem taktischen Inseldenken verhaftet. Erst letzte Woche hinterließen sunnitische Islamisten vor der dänischen Botschaft im Streit über die dänischen Mohammed-Karikaturen eine Szene der Verwüstung.

„Wir wollen die Wahrheit“, lautet der politische Hauptslogan des antisyrischen Lagers bei der Suche nach den Hintermännern des Hariri-Mordes. Zeugen in einem UN-Bericht bezichtigen Syrien der Mittäterschaft, doch die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Vier prosyrische Offiziere des damals von Syrien kontrollierten libanesischen Sicherheitsapparates befinden sich in Haft, bisher wurde allerdings keine Anklage gegen sie erhoben. Die UN-Ermittler haben auch ein Verhör des syrischen Präsidenten Baschar Assad beantragt, das ihnen aber bisher verwehrt wurde.

Der ultimative Beweis für die syrische Verwicklung, der vielleicht auch die Machtbalance zwischen pro- und antisyrischem Lager im Libanon beeinflussen könnte, steht bisher jedenfalls aus. Das politische System des Landes steckt also weiterhin in einer Sackgasse. Und ein Jahr nach der Ermordung Hariris ersetzt die Forderung nach „der Wahrheit“ in dem Mordfall nicht länger ein Programm, wie es politisch weitergehen soll.